Y-Chromosom fertig sequenziert |
Theo Dingermann |
24.08.2023 09:00 Uhr |
Diverser wird das Y-Chromosom in einer zweiten Publikation in der gleichen Ausgabe von Nature. Hier präsentieren Dr. Pille Hallast vom The Jackson Laboratory for Genomic Medicine in Farmington, Connecticut, und Kollegen die de novo Zusammenstellungen von 43 Y-Chromosomen, die die fünf kontinentalen Gruppen des 1000 Genomes Projects repräsentieren und die 183.000 Jahre menschlicher Evolution abdecken.
Während sowohl die GRCh38- als auch die T2T-CHM13+Y-Referenzgenome europäische Y-Linien repräsentieren, stellt die Hälfte der Y-Chromosomen, die in dieser Arbeit vorgestellt werden, afrikanische Linien dar. Insgesamt kann die Liste der hier publizierten 43 Y-Chromosomensequenzen für sich beanspruchen, eine sehr gute Sammlung der am tiefsten verwurzelten menschlichen Y-Linien zu repräsentieren.
Bereits auf Basis dieser ersten, noch nicht erschöpfenden Analyse der Struktur und Evolution von Y-Chromosomen lässt sich viel lernen. So zeigt sie beispielsweise, dass die Hälfte der euchromatischen, also Gen-reichen Region der Y-Chromosomen aus großen Inversionen von DNA-Abschnitten (Umkehrungen) mit einer mehr als zweifach höheren Wiederholungsrate im Vergleich zu allen anderen Chromosomen besteht.
Amplikonische Sequenzen, also Sequenzen, die aus Y-spezifischen Wiederholungseinheiten bestehen, sind mit den Inversionen assoziiert, weisen unterschiedliche Mutationsraten auf, die vom Sequenzkontext abhängig sind, und zeigen Anzeichen für eine konzertierte Evolution mit dem Erwerb und der Löschung von abstammungsspezifischen Pseudogenen.
Die größte heterochromatische Region im menschlichen Genom, Yq12, besteht aus alternierenden Repeat-Arrays, die in Anzahl, Größe und Verteilung stark variieren. Demgegenüber liegen die Gene, die auf den Y-Chromosomen nur in Form einer einzigen Kopie für ein Protein kodieren, in allen 43 untersuchten Y-Chromosomen mit Ausnahme weniger Punktmutationen extrem konserviert vor. Das ist anders bei den Multi-Copy-Genen, die deutlich mehr Mutationen aufweisen. Zudem beobachtet man bei diesen Genen variierende Kopienzahlen.
Die geringe Anzahl an Einzelbasenaustauschen in Genen, die nur in einer Kopie auf dem Y-Chromosom vorhanden sind, stimmt mit früheren Studien überein, in denen gezeigt wurde, dass durch den Rückgang der effektiven männlichen Bevölkerungsgröße vor etwa 5000 bis 7000 Jahren, der zu einer Knappheit funktionierender Y-Chromosomen führte, und einer damit einhergehenden korrigierenden Selektion, schädliche Mutationen und damit verbundene Proteinvarianten verloren gingen.
Die Verfügbarkeit von vollständig sehr exakt sequenzierten Y-Chromosomen von mehreren Individuen bietet nun eine einzigartige Gelegenheit, neue Assoziationen von Merkmalen mit spezifischen Y-Chromosomenvarianten zu identifizieren und noch tiefere Einblicke in die Evolution und Funktion komplexer Regionen des menschlichen Genoms zu gewinnen.