Y-Chromosom fertig sequenziert |
Theo Dingermann |
24.08.2023 09:00 Uhr |
Es ist anders alle anderen Chromosomen und wurde jetzt auch als letztes fertig sequenziert: Das Y-Chromosom des Menschen. / Foto: Adobe Stock/vchalup
Dass das 2003 offiziell abgeschlossene Humangenomprojekt (HGP) auch nach 20 Jahren selbst hinsichtlich der Ermittlung der exakten Basenzusammensetzung immer noch etliche weiße Flecken offengelassen hat, wird dadurch deutlich, dass aktuell in »Nature« eine Publikation mit dem Titel »The complete sequence of a human Y chromosome« erschienen ist. Fachleuten war natürlich bekannt, dass der Basenkatalog noch unvollständig war, ganz zu schweigen von dem Katalog zu den Funktionen aller humanen Gene.
Um so wichtiger ist die aktuelle Publikation, in der die vielen Probleme und deren Lösung beschrieben sind, das Programm des äußerst komplex organisierten Y-Chromosoms zu entschlüsseln. Forschende vom Telomere-to-Telomere-Konsortium (T2T) mit Dr. Arang Rhie vom National Human Genome Research Institute der National Institutes of Health in Bethesda als Erstautor präsentieren die vollständige 62.460.029 Basenpaare umfassende Sequenz des menschlichen Y-Chromosoms.
Mit der nun veröffentlichten Sequenz wurde das neue Referenzgenom des Menschen aus der sogenannten CHM13-Zelllinie fertiggestellt, das sicherlich das bisherige Referenzgenom GRCh38 (vom Humangenomprojekt) ablösen wird. Dieses enthält die unter Zuhilfenahme modernster Techniken neu ermittelte Basenabfolge aller Chromosomen von Telomer zu Telomer zusammen mit einer vollständigen Annotation der Gen-, Repeat- und Organisationsstruktur.
Tatsächlich war bisher in dem menschlichen Referenzgenom mit dem Kürzel »GRCh38« das Y-Chromosom nur sehr unvollständig charakterisiert. Genauer gesagt fehlten Sequenzinformationen für mehr als der Hälfte dieses Chromosoms, das bekanntlich durchaus bedeutsam ist, enthält es doch unter anderem entscheidende Informationen für die männliche Fruchtbarkeit in Form der Gene, die für die Spermienproduktion notwendig sind. Zudem liegt auf dem Y-Chromosom mit dem SRY-Gen die genetische Information, die das Geschlecht bei den Säugern festlegt.
Die jetzt geschlossenen Lücken befinden sich zum einen in Sequenzen rund um das Zentromer, also der zentralen Verbindungsstelle der beiden Chromatiden eines Chromosoms, die notorisch schwierig zu sequenzieren sind. Zum anderen lagen die Sequenzlücken in Segmenten von Amplikonbereichen, in denen eine bestimmte DNA-Sequenzen mehrfach hintereinander aufgereiht vorliegt, und in ausgedehnten heterochromatischen Bereichen, in denen die DNA stark an Histon- und Nicht-Histon-Proteinen gebunden vorliegt.
Was neu entdeckt wurde: Das Team um Rhie erweitert das aktuelle Referenzgenom um mehr als 30 Millionen Basenpaare, wodurch die vollständigen Strukturen einer Reihe von Genfamilien sichtbar werden und 41 neue proteinkodierende Gene identifiziert werden. Die Ergebnisse korrigieren auch Annahmen, die in Mikrobiom-Studien gemacht wurden, in denen zuvor unbekannte menschliche Y-Chromosom-Sequenzen fälschlicherweise als bakterielle Sequenzen zugeordnet wurden.
Erst durch innovative Fortschritte bei den Sequenzierungstechnologien gelang es, diese weißen Flecken im Y-Chromosom mit sehr genauer Sequenzinformation zu füllen. Insbesondere Techniken, die als »High-Fidelity-Reads (HiFi)« des Unternehmens Pacific Biosciences und als ultralange Reads (ONT) von Oxford Nanopore bezeichnet werden, waren hier maßgeblich für die erfolgreiche Entschlüsselung der komplizierten Genombereiche verantwortlich.
Das neue Referenzgenom, das von den Mitgliedern des Telomere-to-Telomere(T2T)-Konsortiums ermittelt wurde, wird vermutlich T2T-CHM13+Y heißen. Anhand dieses Referenzgenoms werden sich genetische Varianten in Patientengenomen deutlich zuverlässiger beschreiben lassen, als dies mit dem früheren GRCh38-Assembly möglich war.