| Jennifer Evans |
| 19.09.2024 07:00 Uhr |
Neu zusammengewürfelt: Viele psychologische Begriffe tauchen in neuen Kontexten wieder auf und haben ihre Bedeutung erweitert. / © Adobe Stock/vegefox.com
Concept Creep heißt das Phänomen, das der australische Psychologe Nick Haslam vom Institut für Psychologie an der Universität Melbourne geprägt hat. Es bezeichnet Wörter, die ursprünglich aus dem wissenschaftlichen Umfeld der Psychologie oder Therapie stammen und schleichend (creep) in den allgemeinen Sprachgebrauch gewandert sind. Manchmal hat sich dadurch ihre Bedeutung verändert – auch wegen ihres plötzlich inflationären Gebrauchs.
Haslam unterscheidet bei diesen Begriffen zwei Bewegungsrichtungen. Zum einen eine horizontale Expansion. Das bedeutet, die Worte werden in einem anderen Zusammenhang verwendet, ihre Bedeutung wird erweitert. Und zum anderen eine vertikale Dehnung. Dabei nutzen Sprecherinnen und Sprecher dieselben Worte bereits dann, wenn es lediglich um leichtere Fälle eines negativen Ereignisses geht.
Ein Beispiel ist das Wort Trauma. Während der Begriff vor mehr als 40 Jahren praktisch nur in Zusammenhang mit Kriegserlebnissen oder Vergewaltigungen Verwendung fand, kann heute im Sinne einer vertikalen Dehnung schon Untreue oder im Extremfall sogar eine schlechte Schulnote und ein Pickel im Gesicht bei einigen Menschen ein Trauma verursachen. Außerdem beschreibt das Wort inzwischen nicht mehr nur eine individuelle Erfahrung, sondern kommt zunehmend für ganze Nationen zum Einsatz, die aufgrund eines schrecklichen Ereignisses unter einem sogenannten kulturellen Trauma leiden, wodurch der Begriff auch eine horizontale Expansion erfahren hat.
Ähnliches lässt sich bei Worten wie Mobbing und Depression oder aggressiv, gewalttätig und toxisch beobachten. Haslam nennt ebenfalls Begriffe wie Missbrauch, Bullying, Vorurteil oder Sucht, die unter das Phänomen fallen. Wer sich heute misshandelt fühlt, meint damit nicht mehr zwangsläufig die körperliche Ebene, sondern bezieht es womöglich auf die emotionale Ebene. Damit spielt Subjektivität eine immer größere Rolle, was die Einordung einer negativen Erfahrung zusätzlich erschwert.
Solche semantischen Ausweitungen können in den Augen von Kritikern zu einer Verharmlosung wirklich schwerer beziehungsweise krankhafter Fälle führen. Andere warnen vor einer Wahrnehmungsverschiebung, die mit den Creeps einhergeht. Schließlich könnte eine Bedeutungserweiterung suggerieren, dass die Welt schlechter geworden ist. Was einst also noch als Schmerz oder Verletzung galt, ist jetzt zur Krankheit geworden.
Andere Experten sind dagegen gelassener und werten Concept Creeps einfach als Zeichen der Zeit, in der Menschen zunehmend offener über ihre Leiden sprechen und diese oft auch zeigen. Die Entwicklung, dass die Sensibilität für psychische Themen oder ausgegrenzte Personen gestiegen ist, halten sie für begrüßenswert. Ob das aber gleichzeitig bedeutet, dass wir überempfindlich geworden sind, ist unklar. Wäre es aber so, könnten schnell wieder neue Verletzungen entstehen. Ein Teufelskreis.
Ein Problem an der ganzen Sache ist nur, Sprache verändert sich nicht an allen Orten im selben Tempo. Während also einige Menschen bestimmte Begriffe so verstehen und verwenden wie sie es früher einmal gelernt haben, hat sich die Inhaltsebene für andere längst verschoben. Das wiederum kann sich durchaus negativ auf unsere Kommunikation untereinander auswirken, sprich: wir reden nicht immer über dasselbe, obwohl wir dasselbe sagen. Die sozialen Medien haben sicher zum Bedeutungswandel beigetragen. Wer dramatisiert oder sich als Opfer darstellt, bekommt mehr Likes. Und die vermeintlichen Täter sind schnell kriminalisiert.
Was steckt hinter den Bedeutungsverschiebungen? Der Psychologieprofessor Gregg Henriques von der US-amerikanischen James Madison University ist der Ansicht, dass unter anderem Bildung einen Einfluss hat. Nimmt das Wissen über Missbrauch oder psychische Störungen zu, erweitern sich schnell die Grenzen der Begriffe.
Angesichts der Concept Creeps plädiert Henriques schon seit Jahren dafür, an unseren Werten zu arbeiten. Das begründet er damit, dass im wirklichen Leben Fakten und Werte eng miteinander verwoben sind. Demnach ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir uns über unsere Werte im Klaren sind und sie neu definieren, um uns wieder besser verstehen zu können. In seinen Augen ist Schadensbegrenzung für die Betroffenen in jedweder Hinsicht zwar wichtig, aber keine Basis für ein wertebasiertes Leben.
Generell wandern Worte, weil sie häufig mit einer bildlichen Vorstellung verknüpft sind, die sich ebenso gut auf einen anderen Kontext übertragen lässt und vom Gegenüber sofort verstanden wird. Im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) lassen sich einige Concept Creeps gut nachvollziehen. So wird 2024 das Wort »Trauma« allein in den Printmedien doppelt so häufig verwendet wie noch 2017. Das Auftreten des Wortes »toxisch« hat sich im selben Zeitraum mehr als verfünffacht. Weniger stark, aber ebenso deutlich, sind die Kurven für Begriffe wie Depression, Gewalt und Mobbing angestiegen.