Wirklich krebserregend? |
Theo Dingermann |
14.07.2023 11:30 Uhr |
Professor Dr. Jürgen König, Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften an der Universität Wien sagte auf Nachfrage des Science Media Centers: »Die neue Bewertung von Aspartam durch die IARC ist für mich sehr überraschend, da sich die Evaluierung zumindest auf Basis der verfügbaren Informationen im Wesentlichen auf die Ergebnisse von drei Studien stützt, die zudem ‚nur‘ positive Assoziationen zwischen dem Konsum von künstlich gesüßten Getränken und dem Krebsrisiko ermittelten. Die IARC sieht im Konsum von künstlich gesüßten Getränken einen Näherungswert (‚proxy‘) für die Aufnahme an Aspartam, dafür gibt es aber meiner Ansicht nach keine Evidenz. Insgesamt steht die Bewertung der IARC auf eher schwachen Beinen, dies wird aber auch durch den Hinweis auf eine begrenzte Evidenz (‚limited evidence‘) eingeräumt.«
Dr. Stefan Kabisch, Studienarzt in der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin (Deutsches Zentrum für Diabetesforschung / DZD), Campus Benjamin Franklin (CBF), Charité – Universitätsmedizin Berlin sagt: »Die Einstufung von Aspartam als ‚möglicherweise krebserregend‘ ändert an unserem täglichen Gebrauch sehr wahrscheinlich nichts. Die Einstufung ist sehr zurückhaltend, das heißt ein Krebsrisiko ist keinesfalls sicher und nicht einmal besonders wahrscheinlich. Daher ändert sich auch an der empfohlenen maximalen Tagesdosis (ADI) nichts. Die WHO hat in einer kürzlich veröffentlichten Leitlinie davon abgeraten, Süßstoffe zur Gewichtsreduktion zu verwenden. Dieses Statement war deutlich vehementer formuliert, obwohl die Evidenzlage ähnlich unsicher ist. Insofern ist die mildere Einstufung zum Krebsrisiko erfreulich.«
Zudem seien Gesundheitsrisiken für Zucker deutlich klarer belegt, ergänzt Kabisch. Zucker fördere neben Karies auch Adipositas und Typ-2-Diabetes und trage somit auch zu einem Krebsrisiko bei. Ein Umstieg von Süßstoffen auf Zucker würde sicherlich Krankheitsrisiken verstärken, so der Experte.
Privatdozentin Dr. Bettina Wölnerhanssen und Privatdozentin Dr. Anne Christin Meyer-Gerspach, Co-Leiterinnen metabole Forschung St. Clara Forschung am St. Claraspital in Basel vermuten, dass die IARC/WHO hier wahrscheinlich hauptsächlich ein Zeichen setzen und die Konsumenten dazu animieren möchte, möglichst Wasser und ungesüßte Tees zu trinken, den Zuckerkonsum drastisch zu reduzieren, dabei aber Süßstoffe nur in Maßen zu konsumieren. Die neue Klassifikation solle wohl auch dazu motivieren, mehr Studien zu dieser Substanz durchzuführen. Das sei begrüßenswert, so die Wissenschaftlerinnen.
Allerdings sei eine solche Klassifikation, wie sie von der WHO vorgenommen wurde, auch problematisch: sie könnte die Verbraucher unnötigerweise dazu verleiten, mehr Zucker zu konsumieren, anstatt zuckerfreie oder zuckerarme Alternativen zu wählen, die nach wie vor gemäß der aktuellen Datenlage insgesamt immer noch gesünder sind.