»Wir stehen erst ganz am Anfang« |
Die einsträngige RNA wird am Ribosomen abgelesen und in Proteine übersetzt. / Foto: Getty Images/Science Photo Library/Kateryna Kon
Schlagartig rückte die Corona-Pandemie vor drei Jahren eine bis dahin kaum bekannte Technologie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. In der Rekordzeit von weit unter einem Jahr wurden mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt, getestet, zugelassen und eingesetzt. Möglich wurde das beispiellose Tempo durch die beharrliche Vorarbeit zweier Forschender der Universität von Pennsylvania, die dafür nun den Nobelpreis für Medizin erhalten.
mRNA übermittelt in der Zelle die Baupläne für Proteine von der Erbsubstanz DNA an die Eiweißfabriken, die Ribosomen. Weil das Molekül extrem schnell zerfällt und zudem vom Immunsystem angegriffen wird, wenn es von außen in den Organismus gelangt, wurde das medizinische Potenzial des Ansatzes lange verkannt.
Entscheidend war die Hartnäckigkeit der in Ungarn geborenen Biochemikerin Katalin Karikó (68) und des 64-jährigen US-Immunologen Drew Weissman: Sie zeigten, dass man mRNA dem Zugriff des Immunsystems entziehen kann, wenn man einen bestimmten Baustein austauscht. Auf dieser Grundlage erforschten Pionierfirmen wie Biontech aus Mainz, Curevac aus Tübingen und Moderna aus Cambridge (USA) das medizinische Potenzial – zunächst gegen Krebs.
Mit der Corona-Pandemie konzentrierten sich die Firmen auf Covid-19, mit ihrem Abebben rücken wieder andere Einsatzmöglichkeiten in den Fokus, vor allem Infektionskrankheiten und Krebs. «Die Technologie hat ein Riesenpotenzial», sagte Biontech-Mitgründer Ugur Sahin schon 2021 der Deutschen Presse-Agentur. «mRNA-Verfahren haben die Tür zu einer neuen Klasse von Arzneimitteln geöffnet, die bisher ungelöste Herausforderungen in der Medizin adressieren können.»
Biontech prüft derzeit den Grippe-Impfstoff BNT161 in einer für die Zulassung erforderlichen Phase-3-Studie. Konkurrent Moderna listet auf seiner Website für diese Phase diverse Impfstoffe auf, auch gegen das RS-Virus und das Zytomegalie-Virus (CMV). Gegen Tuberkulose, Malaria und HIV wird der Ansatz ebenfalls geprüft.
Mit dem Verfahren könne man für verschiedene Patienten schnell individuelle Impfstoffe herstellen, sagt Niels Halama vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). So kann die Charakterisierung eines individuellen Tumors dessen zentrale Veränderungen ermitteln. Die mRNA kann dann die Baupläne dieser Antigene in die Zellen tragen, sodass das Immunsystem gezielt dagegen vorgehen kann.
Derzeit prüfen Dutzende Studien den Nutzen von mRNA gegen diverse Tumore – von Melanomen über Lungen- , Prostata- und Brustkrebs bis hin zu Karzinomen der Bauchspeicheldrüse. Gerade für diese schwer behandelbaren Pankreas-Karzinome habe eine kleine US-Studie vielversprechende Daten ergeben, sagt Halama: «Diese haben deutlich gezeigt, dass die Impfung zusammen mit anderen Maßnahmen wie Chemotherapie und Operation einen Nutzen bringen kann.»
Und es gibt weitere Anwendungsmöglichkeiten. Sahin berichtete 2021 im Fachblatt «Science», dass mRNA-Wirkstoffe bei Mäusen möglicherweise bei Autoimmun-Erkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) helfen könnten. Und ein Team um Weissman stellte 2022 in «Science» vor, dass der Ansatz ebenfalls erst bei Mäusen eine Herzfibrose, ein weit verbreitetes Kennzeichen von Herzschwäche, bessern kann.
Curevac-Gründer Ingmar Hoerr sagt, die Vorarbeit von Karikó und Weissman habe die Grundlage für eine Vielzahl von Therapien geliefert und viele weitere kämen erst noch. «Wir stehen erst ganz am Anfang», so der Biologe. «Wir werden erleben, dass Medikamente gegen andere Krankheiten entstehen – auch im Falle einer neuen Epidemie.»