Wie lange Menschen leben könn(t)en |
Annette Rößler |
17.11.2021 07:00 Uhr |
Die Französin Jeanne Calment lebte von 1875 bis 1997 – 122 Jahre lang. Damit ist sie bis heute der Mensch mit dem höchsten dokumentierten Lebensalter. / Foto: picture alliance/Reuters|Jean-Paul Pelissier
969 Jahre: So alt wurde laut der Bibel der älteste Mensch, Methusalem. Wenig später begrenzte Gott die Lebenszeit des Menschen allerdings auf 120 Jahre. Während das biblische Alter von Methusalem aus naturwissenschaftlicher Sicht unrealistisch hoch erscheint und auch von den meisten Theologen allegorisch statt wörtlich genommen wird, stimmt die zweite Zeitangabe mit neueren Forschungsergebnissen zumindest grob überein. Eine Reihe von Wissenschaftlern vertritt nämlich die Auffassung, dass es für das maximal erreichbare Lebensalter des Menschen eine natürliche Obergrenze gibt. Sie soll laut jüngsten Schätzungen bei 120 bis 150 Jahren liegen.
Jeanne Calment, die von 1875 bis 1997 lebte, drang als Mensch mit dem bislang längsten dokumentierten Lebensalter von 122 Jahren bereits in diese Regionen vor. Menschen wie sie, die das 110. Lebensjahr vollendet haben, werden als Supercentenarians bezeichnet; Hundert- bis Hundertneunjährige nennt man Centenarians. Obwohl das Erreichen eines so hohen Lebensalters bei Weitem noch nicht die Regel ist, wird die Gruppe der Hochbetagten in Deutschland seit Jahren immer größer. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren 2020 hierzulande 20.465 Menschen 100 Jahre alt und älter.
Diesen Trend sieht man auch in anderen Industrienationen. Dort ist der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung heutzutage vor allem darauf zurückzuführen, dass es immer mehr sehr Alte gibt und nicht mehr, wie früher, dass die frühkindliche Sterblichkeit zurückgeht. In Deutschland hat das Auftauchen von Covid-19, an dem 2020 vor allem alte Menschen starben, dazu geführt, dass die Lebenserwartung im vergangenen Jahr nicht weiter gestiegen ist. Im besonders stark von der Pandemie betroffenen Bundesland Sachsen sank sie sogar.
Wie man an diesem Beispiel sieht, kann die durchschnittliche Lebenserwartung auch kurzfristigen Einflüssen unterworfen sein. Dagegen wird das höchste erreichbare Lebensalter als eine für die jeweilige biologische Art feststehende Größe angesehen. Für Homo sapiens besonders spannend ist dabei die Frage, ob das für ihn auch zutrifft – schließlich gelingt es Menschen mit pharmakologischen Mitteln bereits jetzt, Todesfälle zu verhindern.
2016 beantworteten Genetiker vom Albert Einstein College of Medicine in New York um Dr. Xiao Dong die Frage, ob es eine Obergrenze für das menschliche Leben gibt, im Fachjournal »Nature« allerdings mit einem klaren Ja. Sie hatten anhand von Einträgen in eine internationale Datenbank aus den Jahren 1968 bis 2006 ausgewertet, in welchem Alter die jeweils ältesten Menschen aus Frankreich, Japan, Großbritannien und den USA, den Ländern mit den damals meisten Supercentenarians, gestorben waren.
Dabei stellten sie fest, dass das maximale Lebensalter (Maximum Reported Age at Death, MRAD) bis in die 1990er-Jahre immer weiter nach oben geklettert war, seitdem aber nicht mehr. Bei 115 Jahren erreiche das MRAD ein Plateau, so die Autoren. Bedeutend älter zu werden, sei extrem unwahrscheinlich. So liege die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch älter als 125 Jahre werde, in jedem gegebenen Jahr unter 1:10.000. Jeanne Calment wäre mit ihren 122 vollendeten Lebensjahren demnach fast schon am Limit gewesen.
Diese These blieb jedoch nicht lange unwidersprochen, vor allem weil nicht alle Forscherkollegen mit den statistischen Methoden von Dong et al. einverstanden waren. 2018 publizierte eine Gruppe um Professor Dr. Elisabetta Barbi von der Univeristät Sapienza in Rom im Fachjournal »Science« die Gegenthese: Die Sterblichkeit von Menschen steige bis zum Alter von 80 Jahren exponentiell, gehe dann jedoch zurück und pendele sich im Alter von über 105 Jahren bei etwa 50:50 ein. Jeweils noch ein Jahr älter zu werden, sei somit für Personen dieses Alters genauso wahrscheinlich, wie im Folgejahr zu versterben.
Ein maximal erreichbares Alter kann aber nur definiert werden, wenn die Sterbewahrscheinlichkeit irgendwann viel höher wird als die Wahrscheinlichkeit, noch länger zu leben. Und genau das bezweifeln diejenigen, die ein Mortalitäts-Plateau im extrem hohen Alter als belegt ansehen. Barbi und Kollegen stehen mit dieser Einschätzung nicht allein da: Erst kürzlich erschien im Fachjournal »Royal Society Open Science« eine Arbeit, die das bestätigt. Hier berichten die Autoren um Professor Dr. Léo R. Belzile von der École des Hautes Études commerciales Montréal in Kanada noch ein weiteres interessantes Detail: Ab dem 108. Lebensjahr gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Männern und Frauen, was die Länge der weiteren Lebenserwartung angeht.
Allerdings sind Menschen ja keine Maschinen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nach einer gewissen Zeit kaputtgehen oder eben nicht, sondern lebende Organismen, die sich aus vielen Billionen Zellen zusammensetzen. Wer die Frage nach der Obergrenze der Langlebigkeit ausschließlich mit statistischen Methoden beantworten will, springt daher zu kurz. Den Aspekt, dass die biologischen Prozesse im Körper mit den Jahren immer störanfälliger werden, berücksichtigt eine aktuelle Publikation in »Nature Communications«.
Die Autoren um Timothy V. Pyrkov von der in Singapur ansässigen Firma Gero PTE werteten für ihre Arbeit keine Sterbedaten aus, sondern Biomarker: Sie untersuchten, wie lange alte Menschen brauchen, um sich von wie auch immer gearteten Störungen des Gleichgewichts ihrer Stoffwechselfunktionen wieder zu erholen. Hierzu zogen sie zum einen die Gesamtzahl der Blutzellen heran und zum anderen die Zahl der täglich zurückgelegten Schritte – zwei Parameter, die bewusst so gewählt waren, dass sie nichts miteinander zu tun haben.
In beiden Kategorien ergab die Extrapolation der vorhandenen Daten eine Alters-Obergrenze von 120 bis 150 Jahren. In diesem Alter wäre ein Mensch demnach nicht mehr in der Lage, sich beispielsweise von einem banalen Infekt zu erholen. Schon geringste Störungen der Balance der körpereigenen Systeme könnten dann den Tod bedeuten.
Unter Idealbedingungen scheint es somit durchaus möglich, dass irgendwann einmal noch mehr Menschen das hohe Alter von Jeanne Calment erreichen oder es sogar übertreffen. Sehr wahrscheinlich ist das aber wohl nicht – und ob sich das im Einzelfall jeder wünscht, steht noch einmal auf einem anderen Blatt.
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