Wenn Zwänge das Leben bestimmen |
Menschen mit Zwangsstörungen leiden häufig zusätzlich unter Stigmatisierung. / Foto: Getty Images/NicolasMcComber
»Der Großteil der zwangserkrankten Menschen rechnet mit Schwierigkeiten sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch bei der Partnersuche, falls ihre Erkrankung öffentlich bekannt werden sollte«, so Dr. Hans Onno Röttgers. Noch immer habe man es daher mit einer »geheimen Krankheit« zu tun, sagte der Vorsitzende des Modellprojektes »Marburger Forum Zwangserkrankungen« beim 26. gemeinsamen Fortbildungsseminar der Apothekerkammer Hamburg und der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft DPhG-Landesgruppe Hamburg, das am vergangenen Samstag pandemiebedingt erneut online stattfand.
Ob Zwangsstörungen, Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, ob Reinigungs-, Kontroll-, Ordnungs-, Zähl-, Sammel- oder Symmetriezwänge: Zwar hätten sich die Möglichkeiten der Behandlung von Zwangserkrankungen durch die Entwicklung moderner psychologischer und medikamentöser Therapieoptionen in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Es dauere jedoch noch immer zu lang, sprich: zum Teil zehn Jahre bis zur sicheren Diagnosestellung und damit auch Zugang zu adäquater Behandlung.
Ganz abgesehen von der Tatsache, dass nur ein Drittel der Betroffenen jemals medizinische Hilfe sucht: Auch gibt es laut Röttgers es nach wie vor zu wenig Fachkliniken und Spezial-Ambulanzen. Die gleichermaßen zu beobachtende mangelnde Vernetzung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung gehe im Falle einer Behandlung mit einer hohen Rückfallwahrscheinlichkeit einher. »Die gegenwärtige Versorgungssituation ist widrig, obwohl Zwangsstörungen nach Depressionen, Phobien und Sucherkrankungen zu den vier häufigsten psychischen Störungen zählen«, sagte der klinische Psychologe.
Röttgers machte im weiteren Verlauf seiner Ausführungen deutlich, dass sich bei Zwangserkrankungen in epidemiologischen Studien Lebenszeitprävalenzen bis zu 3,5 Prozent zeigen. Diese beginnen zumeist in der Kindheit oder Adoleszenz. Das mittlere Erkrankungsalter betrage 20 Jahre, wobei das weibliche Geschlecht eher zu Waschzwängen, das männliche Geschlecht eher zu Zwangsgedanken neige.
Die Prävalenzraten seien weltweit annähernd gleich und kulturunabhängig. Oftmals, so der Referent, seien Mischformen und nur selten Phasen der Symptomfreiheit zu beobachten. Zwangsstörungen zeigen erhebliche Komorbiditäten wie unter anderem Depressionen und Substanzabhängigkeit, die den Verlauf der Erkrankung verkomplizieren.
Bei der Entstehung von Zwangserkrankungen scheinen genetische Faktoren, aber auch Kindheitsprägungen eine Rolle zu spielen. Zudem gibt es Hinweise auf Störungen spezifischer Regelkreise zwischen bestimmten Gehirnregionen, genauer gesagt zwischen Frontalhirn, Basalganglien und limbischem System. Gedanken, die normalerweise von den Basalganglien inhibiert werden, können nicht mehr gestoppt werden, machte Röttgers deutlich. Dies führe dazu, dass einmal begonnene Überlegungen, Vorstellungen oder Handlungen nicht mehr angemessen gesteuert oder beendet werden können und sich dann immer wieder in der gleichen Art und Weise wiederholen.
Bei leichten bis mittelgradigen Ausprägungen von Zwangserkrankungen, so Röttgers weiter, hat sich die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bewährt, bei der Betroffene mit den Auslösern ihres zwanghaften Verhaltens konfrontiert werden. Die langandauernde Reizkonfrontation unter therapeutischer Anleitung begünstigt problemorientierte Habituationsprozesse und erlaubt den Aufbau neuer Verhaltensmuster, betonte er.
Die kognitive Verhaltenstherapie ist als Gruppen- oder Einzeltherapie möglich. In der Regel umfasst sie eine Reihe wöchentlicher Sitzungen von 50 Minuten. Manchen Menschen geht es dann bereits besser. Bei anderen sind längere Behandlungszeiträume erforderlich. Es wird die Einbeziehung von engen Bezugspersonen bei der Durchführung einer KVT empfohlen.
Der Psychologe führte des Weiteren aus, dass bei schweren Ausprägungen von Zwangshandlungen und -gedanken sowie depressiver Komorbidität die KVT mit einer Pharmakotherapie kombiniert werden kann. Dabei hätten sich Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) als Mittel der ersten Wahl bewährt.
Aufgrund der höheren Nebenwirkungsrate und der potenziell gefährlicheren kardialen Nebenwirkungen werde Clomipramin als Zweite-Wahl-Medikament eingestuft, das in der Therapie von Zwangsstörungen zum Einsatz kommt, wenn Patienten auf SSRI nicht ansprechen oder diese nicht tolerieren. Zudem könne bei schweren Verläufen die zusätzliche Gabe atypischer Neuroleptika weitere Vorteile bringen.
Benzodiazepine seien in der Krisenintervention hilfreich, wirken aber nicht ursächlich auf die Zwangsstörung. Andere Substanzklassen, so Noradrenalin- oder MAO-Hemmer, zeigen bei Zwängen keine Wirkung, so Röttgers.
Sofern erfolgreich, sollte die Pharmakotherapie zur Vermeidung von Rückfällen ein bis zwei Jahre fortgesetzt werden. Das Absetzen sollte über einen Zeitraum von mehreren Monaten unter kontinuierlicher Symptombeobachtung erfolgen. Röttgers hob die professionelle Beratung und Information in der Apotheke als bedeutsam zur Sicherung und Stärkung der Compliance hervor. Überhaupt komme der psychoedukativen Intervention eine wichtige Rolle zu.
Psychoedukative Maßnahmen müssten dabei leitliniengemäß konkret die Aufklärung über das Krankheitsbild, die Wissensvermittlung hinsichtlich Ursachen, Triggerfaktoren und Pathogenese, die Schilderung aller verfügbaren Behandlungsoptionen einschließlich der Wirkmechanismen der eingesetzten Medikamente sowie das Angebot eines effektiven Selbstmanagementkonzeptes umfassen. »Die professionelle Aufklärung und Information in der Apotheke als A und O jeder medikamentösen Behandlung trägt entscheidend zum Therapieerfolg bei«, unterstrich Röttgers.