Wenn das Gehirn hungert |
Theo Dingermann |
10.01.2020 08:00 Uhr |
Die Hinweise mehren sich, dass eine gestörte Glucoseversorgung des Gehirns an der Entwicklung von Demenz beteiligt ist. Das eröffnet potenzielle neue therapeutische Ansätze. / Foto: Shutterstock/Adrian Grosu
»Wir beginnen immer besser zu verstehen, dass der Glucosestoffwechsel im Gehirn eine wahrscheinlich ursächliche und gleichzeitig auch modifizierbare Rolle bei Demenzerkrankungen spielen kann«, sagt beispielsweise Dr. Shannon Macauley, Professorin am Alzheimer Disease Research Center der Wake Forest Medical School in Winston-Salem, North Carolina.
Entlang dieser Linie überrascht es nicht, dass auf dem jüngsten Jahreskongress der Society for Neuroscience mehrere Forschungsteams Daten in diese Richtung präsentierten. Gleichzeitig experimentieren Wissenschaftler auf der ganzen Welt mit Medikamenten, die typischerweise für Stoffwechselstörungen wie Diabetes oder Fettleibigkeit verschrieben werden. Sie wollen herausfinden, ob sich durch derartige Interventionen die Entwicklung von Demenzerkrankungen verlangsamen oder gar verhindern lässt.
Dies ist offensichtlich eine Folge davon, dass sich immer stärker die Erkenntnis breit macht, dass man sich mit der β-Amyloid-Hypothese wohl in eine Sackgasse verrannt hat. Nun hat auch das renommierte Wissenschaftsjournal »JAMA« in einem Artikel unter der Rubrik »Medical News & Perspectives« das Thema aufgegriffen.
Bereits seit Langem wird beobachtet, dass für Diabetes-Patienten das Risiko, an Alzheimer und anderen Demenzformen zu erkranken, deutlich erhöht ist. Allerdings weisen Autopsiebefunde von Alzheimer-Patienten, die zusätzlich an Diabetes erkrankt waren, im Vergleich zu Gehirnen von dementen Nicht-Diabetikern keine signifikant größeren Ablagerungen von β-Amyloid-Plaques und τ-Tangles auf. Daher scheint ein Zusammenhang zwischen einem gestörten Glucosestoffwechsel und einer Demenz nicht unplausibel, ist jedoch (noch) nicht bewiesen. Dennoch sprechen Wissenschaftler heute schon von einem »Typ-3-Diabetes«, worunter eine hirnspezifische Insulinresistenz verstanden wird.
Vielleicht bringt eine aktuelle Studie ein wenig mehr Aufklärung. Sie basiert auf der Beobachtung aus einer jüngeren Studie, dass bei Menschen, deren Diabetes gut eingestellt war, weniger τ-Tangles im Liquor nachweisbar waren als bei Patienten, deren Diabetes nicht behandelt wurde. »Ein gut eingestellter Diabetes könnte das Risiko einer Alzheimer-Krankheit im Gehirn verringern«, sagte auch Dr. Jose Luchsinger, stellvertretender Leiter einer klinischen und epidemiologischen Forschergruppe an der Columbia University in New York City. Eigentlich zweifele bereits jetzt kaum noch einer an diesem Zusammenhang, ergänzt der Wissenschaftler.
Ein weiterer Einflussfaktor ist der Schlaf. Schlafstörungen plagen oft auch Diabetes-Patienten, sodass man in diesem Fall davon ausgehen könnte, dass bereits zwei Risikofaktoren vorliegen. Dieser Schluss könnte allerdings voreilig sein, denn die Frage nach Henne und Ei ist ungeklärt.
Wie es scheint, wirken sich die Entwicklung von Plaques und Tangles negativ auf den Schlaf aus, so Macauley. »Wir sind in einer Studie der Frage nachgegangen, ob Stoffwechsel-Veränderungen ausreichen, um den Schlaf zu stören.« Wurden in einem Alzheimer-Mausmodell entweder zu niedrige oder zu hohe Blutzucker-Konzentrationen provoziert, bewirkte dies Schlafstörungen bei den Tieren. Die Auswirkungen dieser Intervention waren umso größer, je stärker die β-Amyloid- oder τ-Pathologie ausgeprägt war, sagte sie.
Schlafverlust und Alzheimer-Pathologien scheinen eine additive oder synergistische Abwärtsspirale für das Gehirn zu manifestieren, so Macauley. Da ein Diabetes gut mit Medikamenten therapierbar ist, könnten diese auch eingesetzt werden, um der Frage nachzugehen, ob sich die fatalen Einflüsse auf die Hirngesundheit modulieren lassen.
Interessant ist auch der Zusammenhang zwischen dem Vorliegen bestimmter Apolipoprotein-E (ApoE)-Allelen und dem zerebralen Glucosestoffwechsel der Allel-Träger. So ist das schützende ApoE2-Allel mit einem sehr aktiven zerebralen Glucosemetabolismus assoziiert, wohingegen Träger des Risiko-Allels ApoE4 nur einen moderaten Glucosemetabolismus aufweisen.
Diese Assoziationen konnten 2018 in einer Mausstudie mit jeweils homozygoten ApoE2-, ApoE3- und ApoE4-Tieren klar nachgewiesen werden. In der Nachfolgestudie zeigte jetzt das gleiche Forscherteam, dass die zerebrale Glykolyse bei ApoE2-Mäusen viel effizienter funktioniert als bei ApoE4-Mäusen. Offensichtlich produzieren ApoE2-Mäuse im Alter mehr Hexokinase, sodass die Energiegewinnung aus Glucose effektiver ist als bei ApoE4-Mäusen, die aufgrund dieses physiologischen Defizits quasi zerebral hungern. Dies wiederum steht im Einklang mit dem deutlichen Risikopotenzial für die Entwicklung einer Alzheimer-Erkrankung, das von ApoE4-Allelen ausgeht, sagt die leitende Autorin der Studie, Dr. Liqin Zhao, Professorin an der School of Pharmacy der Universität von Kansas in Lawrence.
Zhao und ihre Kollegen suchen nun nach Wegen, ApoE2-Gene zur potenziellen Behandlung für die Alzheimer-Krankheit ins Gehirn zu bringen. Sie arbeiten auch daran, besser zu verstehen, wie genau die Hexokinase bei ApoE4-Tieren herunterreguliert wird, um auf dieser Basis dann Möglichkeiten zu eruieren, den Defekt zu korrigieren.
Die Forscher interessieren sich auch dafür, wie Glucose in Alzheimer-Gehirnen transportiert wird. In einer kürzlich durchgeführten Studie wurde ein reduzierter Glucosestoffwechsel im Gehirn von Mäusen mit einer Glucosetransport-Störung in Verbindung gebracht. Ähnliche Ausfälle wurden auch schon in Proben von Alzheimer-Patienten gemessen. Dr. Steven Barger, Professor für Geriatrie, Neurobiologie und Entwicklungswissenschaften an der Universität von Arkansas in Little Rock, der diese Studie leitete, vermutet, dass auch Entzündungen den Glucosetransport beeinträchtigen könnten. Entzündungen gelten als validierte Begleiteffekte einer Alzheimer-Erkrankung. Barger und seine Kollegen suchen derzeit nach Medikamenten, die die Glucosetransport-Defekte positiv modulieren könnten.
Durch stetig wachsen Zweifel an der β-Amyloid-Hypothese hat die Alzheimer-Forschung wieder Fahrt aufgenommen. In etlichen klinischen Studien werden Diabetesmedikamente bei Demenzpatienten getestet. In einigen Studien wird auch untersucht, ob metabolismusfördernde Maßnahmen wie Ernährungsumstellungen oder körperliche Ertüchtigung kognitive Beeinträchtigungen verzögern oder verringern können.
Bisher sind allerdings die Ergebnisse von Diabetes-Arzneimittelstudien noch uneinheitlich. Im Jahr 2018 wurde eine Phase-III-Studie mit Pioglitazon gestoppt, nachdem in einer Zwischenanalyse nicht nachgewiesen werden konnte, dass durch die Intervention der Beginn einer leichten kognitiven Beeinträchtigung aufgrund einer Alzheimer-Krankheit verzögert werden konnte. Für andere Antidiabetika, darunter auch Insulin, deuten sich vielversprechendere Ergebnisse an.
Dr. Suzanne Craft, die Leiterin des Wake Forest’s Alzheimer’s Disease Research Centers, präsentierte auf der Internationalen Konferenz der Alzheimer’s Association im Juli vergangenen Jahres die Ergebnisse einer Phase-II- und -III-Studie nach einer 18-monatigen Anwendung von nasalem Insulin. In der Studie wurden zwei verschiedene intranasale Applikatoren getestet. Patienten, die ein Modell verwendeten, schienen davon zu profitieren, während Patienten, die ein anderen Applikator verwendeten, nicht zu profitieren schienen.
»Wir haben gelernt, dass nicht alle Applikatoren gleich sind«, sagt Craft. Sie und ihre Kollegen testen derzeit systematischer intranasale Insulin-Applikatoren, um sicherzustellen, dass der Wirkstoff auch das Gehirn erreicht. Erst dann kann eine geplante Phase-III-Studie beginnen.
Unterdessen untersucht Luchsinger, ob das Diabetes-Medikament Metformin bei Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen ein Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit stoppten kann. Metformin wird von Diabetikern ebenso wie von Nicht-Diabetikern gut vertragen.
Andere Forscher konzentrieren sich auf das GLP-1-Analogon Liraglutid, das in einer kleinen Studie aus dem Jahr 2016 die Glucosespiegel bei Alzheimer-Patienten zu stabilisieren vermochte. Ergebnisse einer größeren Studie werden in Kürze erwartet.
Aufgrund der unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten bei Alzheimer wenden sich Craft und andere auch Lebensstil-Maßnahmen zu, die sich positiv auf den Stoffwechsel sowohl im Körper als auch im Gehirn auswirken können. Craft veröffentlichte kürzlich die Ergebnisse einer Pilotstudie, in der eine modifizierte Version der mediterran-ketogenen Diät (MMKD) mit einer fettreduzierten Diät der American Heart Association bei Patienten mit Gedächtnisstörungen oder leichten kognitiven Beeinträchtigungen verglichen wurde.
Sechs Wochen nach Abschluss der Diät hatten sich bei den Patienten unter MMKD die Biomarker für eine Alzheimer-Krankheit in der Cerebrospinalflüssigkeit verbessert. »Mit der ketogenen Diät bewegen wir das β-Amyloid in Richtung normalerer Werte«, sagte Craft. Die Patienten wiesen zudem eine bessere Durchblutung des Hippocampus auf und die Insulinsensitivität hatte sich verbessert. Ein größere klinische Studie zur Evaluation einer modifizierten ketogenen Diät läuft derzeit.
Craft untersucht auch die Vorteile von Sport als Therapie für Patienten mit Alzheimer-Krankheit. In einer Studie konnte Sport die Kognition und die Insulinsensitivität in einer finnischen Population verbessern. Es klingt plausibel, dass ein gesunder Lebensstil, der die Widerstandsfähigkeit des Gehirns stärkt, möglicherweise den Ausbruch einer Demenz verzögern kann. »Es gibt eine Menge, was jeder Einzelne jetzt schon tun kann, um das Auftreten demenzieller Erkrankungen hinauszuschieben«, betont Craft. »Das würde bedeuten, dass die Menschen viel länger ein gutes Leben führen würden.«