Wehe, wenn es aufwacht |
| Christina Hohmann-Jeddi |
| 28.03.2025 18:00 Uhr |
Die Erstinfektion mit Epstein-Barr-Virus verläuft meist unkompliziert – die Reaktivierung kann gravierendere Folgen haben. / © Getty Images/Dr_Microbe
Es ist das erste Virus, das mit der Entstehung von Krebs in Verbindung gebracht wurde. Das Epstein-Barr-Virus (EBV), ein DNA-Virus aus der Familie der Herpesviren, ist auch als Humanes Herpesvirus 4 (HHV4) bekannt. Entdeckt wurde es 1964 von den britischen Virologen Anthony Epstein und Yvonne Barr – in den entarteten B-Zellen eines Patienten mit Burkitt-Lymphom. Seit damals war also bekannt, dass EBV an der Krebsentstehung beteiligt sein kann. Heute weiß man: Das Virus spielt nicht nur beim Burkitt-Lymphom eine Rolle, sondern auch bei weiteren Krebsformen wie dem Hodgkin-Lymphom, beim seltenen, vor allem in Südostasien vorkommenden Nasopharynxkarzinom, verschiedenen Magenkarzinomen und bei den sogenannten Posttransplantations-Lymphomen (PTLD).
Und auch mit Autoimmunerkrankungen ist der Erreger assoziiert: Eine Infektion mit EBV wird epidemiologisch mit systemischem Lupus erythematodes, dem Sjögren-Syndrom und rheumatoider Arthritis sowie anderen Autoimmunkrankheiten, einschließlich Multipler Sklerose, in Verbindung gebracht. Wie kann das Virus so viel Schaden im Körper anrichten?
Das DNA-Virus kommt quasi überall vor. Bis zu 99 Prozent der Menschen weltweit infizieren sich im Lauf ihres Lebens mit EBV. Eine Erstinfektion im Kindesalter bleibt meist asymptomatisch; bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann sie eine infektiöse Mononukleose (Pfeiffer-Drüsenfieber) mit Symptomen wie Fieber, Lymphknotenschwellung und Mandelentzündung auslösen. Ist der Erreger erst einmal im Körper, vermehrt er sich kurz und nistet sich dann in speziellen Immunzellen, etwa den B-Gedächtniszellen, sowie in Epithelzellen ein und setzt sich dort zur Ruhe. Er verbleibt dort lebenslang.
In der Latenzphase exprimiert das Virus nur wenige Proteine von den sogenannten Latenz-Genen; das Genom ist eng verpackt, weitestgehend inaktiv und am Chromatin der Wirtszelle befestigt. In bestimmten Situationen, insbesondere bei einem geschwächten oder fehlgeleiteten Immunsystem, kann das EB-Virus wieder reaktiviert werden: Dann werden andere virale Gene exprimiert (lytische Gene). Das Virus vermehrt sich, zerstört die Wirtszellen und infiziert weitere. Die EBV-Infektion und auch die Reaktivierungen scheinen bei der Pathogenese von Autoimmunerkrankungen eine Rolle zu spielen.
Ein prominentes Beispiel ist die Multiple Sklerose (MS). Den Zusammenhang der EBV-Infektion mit dieser häufigen chronisch-entzündlichen Erkrankung des Zentralnervensystems stellte Professor Dr. Klemens Ruprecht von der Klinik für Neurologie an der Berliner Charité Ende 2024 beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Berlin vor. So seien in Studien bei 100 Prozent der MS-Patienten Antikörper gegen EBV zu finden. Zudem wiesen MS-Patienten höhere EBV-Antikörpertiter auf als Personen ohne die Erkrankung. Eine infektiöse Mononukleose verdopple das Risiko, an MS zu erkranken, berichtete der Mediziner. Wenn man alle Daten zusammenfasse, zeige sich ein deutliches Bild. »Die MS ist eine seltene Spätkomplikation der Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus«, sagte Ruprecht. »Die Daten sind erdrückend.«
Dabei sei die EBV-Infektion notwendig, aber nicht allein ausreichend, um die Pathogenese anzustoßen. Weitere Faktoren, zum Beispiel eine genetische Veranlagung, Umweltschadstoffe oder Lebensstilfaktoren, müssten hinzukommen.
Bei Multipler Sklerose greift das Immunsystem das ZNS an, dabei kann es auch zu Muskelkrämpfen und Muskellähmungen vor allem in den Extremitäten führen. / © Getty Images/SummerParadive
Über welche Mechanismen das Virus die Autoimmunität anstoße, sei noch nicht verstanden, sagte der Mediziner. Hier würden verschiedene Mechanismen diskutiert. Einer ist die sogenannte molekulare Mimikry, bei der gegen EBV gerichtete Antikörper und T-Zellen aufgrund von struktureller Ähnlichkeit auch Antigene im ZNS erkennen und angreifen. Diese Hypothese werde schon lange diskutiert, sei aber problematisch, weil es kein klassisches MS-Antigen gebe und weil sehr selten EBV-Antikörper im ZNS zu finden seien. Des Weiteren werden eine direkte Infektion des Gehirns mit EBV, die Entstehung von autoreaktiven B-Lymphozyten und eine dysregulierte Immunantwort gegen den Erreger diskutiert. Die Mechanismen seien alle nicht stark überzeugend, so der Referent.
Seiner Einschätzung nach kommt den B-Zellen in der Pathogenese eine zentrale Rolle zu, da die Viren diese Zellen infizieren und umprogrammieren und da eine B-Zell-Depletion therapeutisch wirksam ist. 2016 stellte Ruprecht zusammen mit Kollegen die Hypothese auf, dass bei späteren MS-Patienten zum Zeitpunkt der EBV-Akutinfektion das Virus Antikörper-produzierende B-Zellen dazu bringt, in das Gehirn einzuwandern (»Medical Hypotheses«). Das könnte erklären, warum MS-Patienten häufig eine Antikörperproduktion gegen Masern, Röteln und Herpes zoster im Gehirn aufweisen, aber sehr selten gegen EBV. Denn zum Zeitpunkt der Akutinfektion sind noch keine gegen EBV-gerichteten B-Zellen vorhanden. Wie genau das Epstein-Barr-Virus die B-Zellen zum Einwandern ins Gehirn bewegt, ist noch unklar.
Die Mechanismen, wie EBV eine Autoimmunität über MS hinaus begünstigen kann, beschrieben Professor Dr. William H. Robinson und Kollegen von der Stanford University 2024 in einem Übersichtsartikel in »Nature Reviews Rheumatology«.
Demnach gebe es mehrere, sich nicht ausschließende Mechanismen, durch die EBV die Autoimmunität verstärken könnte, darunter eine Reprogrammierung der B-Zellen, Immunevasion oder die lytische Reaktivierung des Virus. So scheint eine EBV-Reaktivierung mit dem Ausbruch oder dem Aufflackern von Autoimmunkrankheiten verbunden zu sein. Hinweise darauf gibt es etwa für Systemischen Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis und das Sjögren-Syndrom. Eine Rolle könnte die Beeinflussung des Immunsystems spielen: So hemmen mehrere EBV-Genprodukte der latenten und lytischen Phase die angeborenen oder adaptiven Immunantworten des Wirts. EBV unterdrückt nachweislich die Expression und Funktion antiviraler Botenstoffe, die durch Toll-like-Rezeptoren und andere angeborene Immunwege induziert werden.
Zudem programmiere das Virus B-Zellen um, berichten die Autoren. EBV infiziert naive B-Zellen, die zu aktiven, proliferierenden Lymphoblasten werden, die in Keimzentren eindringen und sich dort ausbreiten. Infizierte B-Zellen können aber auch als ruhende B- Gedächtniszellen in das Blutsystem gelangen, wo das Virus in einem latenten Zustand verbleibt. EBV kontrolliert die B-Zellen über seine Latenz-Gene und immortalisiert sie, macht sie also unsterblich, um möglichst gut persistieren zu können.
Das stört nicht nur die Immunreaktionen des Wirts, sondern fördert auch die Krebsentstehung. Befallene Lymphozyten, aber auch EBV-infizierte Epithelzellen sind mit verschiedenen Krebsarten assoziiert. Die Mechanismen, die zur Autoimmunität führen, könnten ähnlich sein wie die, die zur Krebsentstehung beitragen, vermuten die Autoren.
Auch bei der Krebsentstehung müssen zur EBV-Infektion noch weitere Faktoren wie genetische Ausstattung und externe Faktoren hinzukommen. Inzwischen sind einige Mechanismen bekannt, die zur Onkogenese beitragen. So kann das Virus angeborene und adaptive Immunreaktionen wirksam vereiteln, die Apoptose hemmen und die Zellproliferation und Angiogenese fördern.
Eine zentrale Rolle spielen dabei virale Onkoproteine wie LMP1 (Latentes Membranprotein 1) und LMP2A, die wichtige zelluläre Signalwege wie NF-κB aktivieren, Wachstumsfaktoren hochregulieren und so das Zellwachstum fördern. Zudem stört das Virusprotein BNRF1 die Bildung der Spindelpole in der Zellteilung und damit die Chromosomenverteilung – eine weitere Krebsursache. Langfristig führt diese Kombination aus gesteigerter Zellproliferation, Immunevasion und genetischer Instabilität dazu, dass sich Mutationen anhäufen und Krebs entstehen kann.
Deutsche Forschende konnten zudem zeigen, dass eine Krebserkrankung nach EBV-Infektion auch vom Virusstamm abhängt: Verschiedene Virusstämme haben unterschiedliche Eigenschaften und können zu verschiedenen Erkrankungen führen (»Cell Reports«, 2013, DOI: 10.1016/j.celrep.2013.09.012).
Neben Krebs- und Autoimmunerkrankungen wird EBV auch als Trigger beim chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) vermutet. Zudem legen Studien nahe, dass eine EBV-Reaktivierung zu Long-Covid-Symptomen beitragen könnte.
Vor Kurzem berichtete ein deutsches Forscherteam, dass eine EBV-Reaktivierung auch der Treiber für das gefährliche Entzündungssyndrom Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS) sein könnte, das Kinder nach einer überstandenen SARS-CoV-2-Infektion entwickeln können. Wie das Team der Berliner Charité und des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums im Fachjournal »Nature« berichtet, könnte eine durch die Coronainfektion ausgelöste Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus die überschießende Immunantwort verursachen (DOI: 10.1038/s41586-025-08697-6).