Was passiert mit dem Immunsystem? |
Theo Dingermann |
15.08.2022 07:00 Uhr |
Patienten mit Long Covid scheinen dauerhaft niedrige Cortisol-Werte zu haben. / Foto: Getty Images/DaniloAndjus
Eine SARS-CoV-2-Infektion kann zur Entwicklung einer Konstellation anhaltender Folgeerscheinungen nach dem Abklingen der akuten Erkrankung führen. Dieses Syndrom wird als postakute Folgeerkrankung von Covid-19 (PASC) oder als Long Covid bezeichnet. Betroffene Personen berichten unter anderem über anhaltende Müdigkeit, Unwohlsein nach Anstrengung und eine Reihe von kognitiven und autonomen Störungen.
Welche pathologischen Prozesse diesen schweren Symptomen zugrunde liegen, ist nach wie vor unklar. Aus diesem Grund erregt eine noch nicht begutachtete Studie auf dem Server »MedRxiv« Aufmerksamkeit, in der umfassende immunologische Daten zu Long Covid bei 215 Probanden erhoben wurden.
Die Studie wurde von Professor Dr. David Putrino vom Abilities Research Center an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai Krankenhaus in New York City und von Professor Dr. Akiko Iwasaki vom Department of Immunobiology an der Yale School of Medicine in New Haven geleitet. Die 215 Probanden der Studie waren vier Gruppen zugeordnet:
Bei den HCW-, CC- und LC-Gruppen waren die Probanden während der akuten Covid-19-Infektion überwiegend nicht stationär behandelt worden, und bei den CC- und LC-Gruppen lag die Erstinfektion im Durchschnitt mehr als ein Jahr zurück.
Von allen Teilnehmenden wurde eine systematische, multidimensionale Immun-Phänotypisierung in Verbindung mit maschinellen Lernmethoden durchgeführt, um potenzielle Schlüsselmerkmale zu identifizieren, die für Long Covid typisch sind.
Mittels Durchflusszytometrie wurden die mononukleären Blutzellen charakterisiert und Gedächtnis-T-Zellen, CD4+- und CD8+-T-Zellen quantifiziert. Zudem wurden die gegen das SARS-CoV-2-Spike-Protein gebildeten Antikörper quantifiziert und die Epitope charakterisiert, gegen die diese Antikörper gerichtet sind. Auch analysierten die Autoren Autoantikörper gegen das Exoproteom, das heißt gegen extrazelluläre Proteine der Probanden. Und es wurden Antikörper gemessen, die gegen das Epstein-Barr-Virus (EBV) und das Varizella-Zoster-Virus (VZV), die zur Familie der Herpesviren gehören, gebildet wurden. Schließlich quantifizierten die Autoren auch noch verschiedene Hormone, einschließlich Cortisol und das adrenocorticotrope Hormon (ACTH).
Zu den wichtigen Ergebnissen der Studie gehören die Identifizierung von drei gut abgegrenzten Patienten-Clustern auf Basis der berichteten Symptomkomplexe, der Nachweis einer häufigen Reaktivierung von Herpesviren (EBV, VZV) sowie der Nachweis mehrerer Antikörper und zellulärer Immunmarker, die auf eine erhöhte Aktivierung des Immunsystems hindeuten. Ähnliche Beobachtungen wurden auch in anderen Studien gemacht.
Bemerkenswert an dieser Studie war der Einsatz von künstlicher Intelligenz für maschinelles Lernen, um objektive Merkmale zu finden, die für Long Covid typisch sind. Dabei identifizierten die Forschenden sehr niedrige Cortisolwerte als einen typischen Biomarker für Long Covid.
In diesem Zusammenhang war es wichtig, dass die Cortisol- und ACTH-Werte in den verschiedenen Gruppen ungefähr zum gleichen Zeitpunkt gemessen wurden, da sie einem starken zirkadianen Rhythmus unterliegen. Somit ist nun mit einer niedrigen Cortisol-Konzentration einer der aussagekräftigsten Prädiktoren für Long Covid identifiziert.
Man hätte erwarten können, dass die ACTH-Werte bei niedrigem Cortisolwert ansteigen würden. Das war jedoch nicht der Fall, was auf eine Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA) bei Long Covid-Patienten hindeutet.
Niedrige Cortisol-Konzentrationen wurden schon früher bei ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) festgestellt. Die Daten dieser Studie unterstreichen nun die potenzielle Bedeutung niedriger Cortisol-Konzentrationen auch für die Pathologie von Long Covid.
Eigentlich hätte man erwarten können, dass der durch die Long-Covid-Symptome ausgelöste Stress und die anhaltende Aktivierung des Immunsystems bei vielen Betroffenen zu einem Anstieg des Cortisolspiegels führen sollten. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Im Gegenzug können die niedrigen Cortisolspiegel mit vielen der gut beschriebenen Symptome von Long Covid in Verbindung gebracht werden.
Wie alle Studien, so hat auch diese sehr umfassende Studie ihre Limitationen, auf die die Autoren auch ausdrücklich hinweisen. Dazu gehört in erster Linie die relativ kleine Anzahl von Teilnehmern, die immunphänotypisiert wurden. Zwar deckt die Studie eine Vielzahl von biologischen Merkmalen ab. Allerdings ist das Long-Covid-Syndrom so komplex, dass eine Vielzahl unabhängiger Beobachtungen nötig sind, auf die sich traditionelle Methoden des maschinellen Lernens stützen, um solide trainiert und optimiert zu werden. Dennoch bietet die Studie eine gute Basis für zukünftige Untersuchungen der immunologischen Grundlagen bei der Entstehung von Long Covid.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.