Warum wir Krankenhaus-Serien so lieben |
| Jennifer Evans |
| 07.05.2025 07:00 Uhr |
Zwischen Soap und Skalpell: Krankenhaus-Serien faszinieren Menschen auf der ganzen Welt. Ihre Dramen lösen viele Emotionen aus. / © Adobe Stock/Artur Lipiński, KI-generiert
Ob Emergency Room, Grey’s Anatomy, Dr. House, Chicago Med, New Amsterdam, The Good Doctor, Schwarzwaldklinik, In aller Freundschaft, Charité oder Klinik unter Palmen – Serien wie diese kommen oft mit Hyperrealismus und Gegenwartsbezug daher. Dadurch kreieren sie Paralleluniversen, die unsere Vorstellungen von Gesundheitsversorgung verzerren können. Zu diesem Schluss kommt Nadia Pettannice in ihrem Beitrag auf »Geschichte der Gegenwart«, eine Online-Plattform für geistes- und kulturwissenschaftliche Themen. Sie ist Historikerin und promoviert derzeit an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die jüngere Psychiatrie- und Medizingeschichte sowie Geschichtsvermittlung.
Als Pettannice »ein paar Stichproben einflussreicher Arztserien ins Labor schickte«, stellte sie unter anderem fest: Auch Realismus lässt sich nicht immer »hoch dosiert und pur« verabreichen. Manchmal müssen Serien zur Substitutionsbehandlung mit schwarzem Humor oder indirekten Anspielungen ansetzen. Als Beispiel nennt sie M*A*S*H*. Die Sitcom, die zwischen Anfang der 1970er- bis Anfang der 1980er-Jahre lief, spielt in einem fiktiven »Mobile Army Surgical Hospital« und porträtiert das Leben des medizinischen Personals 20 Jahre zuvor, adressierte aber die damalige Gegenwart mitten im Vietnamkrieg.
Als Emergency Room ab 1994 bis 2009 über die Bildschirme flimmerte, war die Welt längst eine andere. Die Serie zeigte Personal unterschiedlichen Alters, Herkunft und Körperformen mit vielfältigen Charaktereigenschaften. Wie Pettannice betonte, waren die Hauptfiguren erstmals fehlbar, trafen fragwürdige Entscheidungen, konnten herzlich und fies zugleich sein – und durften sogar ab und an Kaffee trinken. Traditionell blieb es jedoch bei einem Schauplatz mitten in einer großstädtischen Notaufnahme, wo Spitzenmedizin samt Hightech-Geräten den Tagesablauf bestimmten.
Die omnipräsenten Kaffeebecher in Grey’s Anatomy hält die Historikerin jedoch für »eine Pest« – zumal echtes Gesundheitspersonal tagtäglich vor sich hin dehydriere. Zudem sei die Arbeitsatmosphäre in der Serie zeitweise toxisch. Inzwischen habe es aber Anpassungen gegeben, soziale und gesundheitspolitische Themen wie häusliche Gewalt, Immigrationspolitik, Rassismus und Sexismus in der Medizin, Transplantationsgesetze oder Homophobie seien in den Fokus gerückt.
Ein beliebtes Stilmittel der Krankenhausserien ist laut der Historikerin der Zeitraffer. Er signalisiere Dringlichkeit und Geschwindigkeit. »Das Pflegepersonal legt in Lichtgeschwindigkeit Blasenkatheter und alle (!) Ärztinnen und Ärzte sind in der Lage, eine Computertomografie in Millisekunden zu interpretieren. Es folgt die Blitztherapie. Frisch transplantiert, vernäht und versorgt verschwinden die Patientinnen und Patienten im Spitaluniversum und werden vergessen«, schreibt Pettannice. Für eine Krankheitsentwicklung oder den langwierigen Genesungsprozess bleibe keine Zeit.
Genretypisch ist ebenfalls, dass die oft qualvollen Wartezeiten voller Ungewissheit einfach ausgeblendet sind. Wenn seine Expertise gefragt wird, ist der Arzt sofort zur Stelle. Langsamkeit passt eben nicht ins fiktionale Drama. Allerdings löst es beim Zuschauer Erwartungen aus, die in der Klinik-Realität nicht zu finden sind. Sehr beliebt ist ebenfalls, dass Ärztinnen oder Ärzte selbst eine Diagnose bekommen und zu Patientinnen und Patienten werden – nicht immer mit Vorbildfunktion.
Mittlerweile sei das US-Arztserien-Kaleidoskop auf Realpolitik ausgerichtet und zeige »hartnäckig verschiedene Facetten der Gesellschaft in Form von schmerzlichen Mustern, die vor allem vom weißen Publikum gerne verdrängt werden und nun für einige Unverträglichkeitsreaktionen sorgen«, so Pettannice. Wem der harte Klinikalltag zu viel werde, dem verschreibt sie eine Kur in der Sachsenklinik («In aller Freundschaft«), wo die Welt noch in Ordnung sei.
Und tatsächlich ist auch das Konzept der heilen Welt ein Erfolgsfaktor der Krankenhausserien. Darin sind sich Medienforschende einig. Darüber hinaus leben die reichweitenstarken TV-Formate von großen Emotionen. Denn schließlich liegen Leben und Tod, Hoffnung und Krise, Freude und Trauer nirgendwo so nah beieinander wie in einem Krankenhaus. Und die Zuschauer jubeln oder leiden mit. Irgendwie erkennt man sich selbst in dem ein oder anderen Patienten wieder – oder zumindest die eigenen Freunde oder Verwandten. Es geht um Empathie genauso wie um existenzielle Themen.
Auch der Ort trägt zur Beliebtheit dieses Formats bei. Denn im Klinik-Setting passiert ständig etwas Spannendes: Notfälle, überraschende Wendungen, ethische Dilemmata. Und im Gegensatz zum Weltall-Schauplatz anderer Serien war jeder schon einmal in einem Krankenhaus – als Patient oder als Besucher. Dort herrschen zudem stets klare Hierarchien, die Orientierung bieten. Aber auch Konfliktpotenzial unter dem medizinischen Personal kommt nicht zu kurz. Wie in jedem anderen Mikrokosmus auch, gehört natürlich zu jeder guten Soap eine Portion Beziehungsstress und Gossip. Wenn dann noch ein Happy End mit einem Helden (in Weiß) winkt, ist das Erlebnis für viele Fans perfekt.
Eine wichtige Funktion der Klinik-Serien schreiben Medienpsychologen auch der Flucht aus der eigenen Realität zu. Und dieses Merkmal ist gar nicht mal so schlecht wie sein Ruf, weil die Wirklichkeitsflucht der Erholung dient. Wenn das mal nicht nach einem Freifahrtschein klingt, nach einem stressigen Tag bei einem Krankenhausserien-Marathon zu entspannen.