Warum man Medikamente nicht weitergeben sollte |
Viele Arzneimittel sind derzeit nur schwer zu bekommen, wie Fieber- und Schmerz- sowie bestimmte Antibiotikasäfte für Kinder. / Foto: Getty Images/Peter Cade
Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, hat am Sonntag in einem »Tagesspiegel«-Interview vorgeschlagen, man solle sich angesichts von Lieferengpässen nachbarschaftlich mit knappen Medikamenten aushelfen. Selbst abgelaufene Medikamente könne man weitergeben, diese könnten »gefahrlos« verwendet werden.
Aus pharmazeutischer Sicht ist ein solcher Vorschlag unverantwortlich – auch wenn die Bundesärztekammer auf Nachfrage der Pharmazeutischen Zeitung den Vorschlag ihres Präsidenten auf nicht verschreibungspflichtige, originalverpackte Arzneimittel eingeschränkte. Trotzdem gibt es hier so einige Probleme, die es zu bedenken gilt. »Ein Arzneimittel, das für die Freundin hervorragend geeignet ist, kann einem selbst unter Umständen schaden«, warnt als Reaktion nun unter anderem Ursula Funke, Präsidentin der Landesapothekerkammer Hessen.
Hier die wichtigsten Argumente:
Das Apothekenpersonal prüft vor jeder Abgabe eines Arzneimittels, ob es für den jeweiligen Patienten geeignet ist. Aus diesem Grund gibt es die Apothekenpflicht. Während zum Beispiel Kinder Paracetamol oder Ibuprofen in den allermeisten Fällen gut vertragen, da sie noch keine Leber- oder Nierenprobleme haben, kann das bei Erwachsenen anders aussehen. Paracetamol soll nicht bei eingeschränkter Leberfunktion eingesetzt werden, Ibuprofen nicht bei eingeschränkter Nierenfunktion. Acetylsalicylsäure (ASS) darf nicht bei Kindern unter zwölf Jahren zum Einsatz kommen, da bei ihnen es in seltenen Fällen die schwere Nebenwirkung Reye-Syndrom auslösen kann, was sicherlich nicht jeder Laie weiß.
Handelt es sich um Antibiotikum, gilt erst recht, dass man hier nicht einfach auf das zurückgreifen kann, was die Nachbarin gerade noch in ihrer Hausapotheke hat. Denn nicht jedes Antibiotikum hilft bei jeder Infektion. Dosierung und Anwendungsdauer sind vom Arzt festzulegen, damit die Therapie anschlägt und Resistenzen und Nebenwirkungen vermieden werden.
In den meisten Haushalten werden Medikamente nicht kühl und trocken gelagert, sondern im feucht-warmen Milieu von Bad oder Küche. Klassiker ist der Badezimmerschrank. Diese Lagerungsbedingungen können schon unangebrochenen Medikamenten diesseits des Verwendbarkeitsdatums zusetzen, weshalb einmal in der Apotheke abgegebene Medikamente nicht zurückgenommen werden dürfen. Nicht umsonst sind in der Apotheke die Lagerungsbedingungen ganz klar geregelt (zum Beispiel nicht über 25 °C).
Ein Beispiel für einen Arzneistoff, der sich schnell zersetzten kann, ist ASS. Er dissoziiert in feuchter Luft relativ schnell zu Salicylsäure und Essigsäure. Werden Zäpfchen zu warm, können sie schmelzen. Wenn sie wieder abkühlen und hart werden, kann die Wirkstofffreisetzung verändert sein. Cremes und Salben können ranzig werden, verkeimen oder sich in einzelne Komponenten zersetzen. Das gilt insbesondere für angefangene Tuben und Tiegel.
Zum Verwendbarkeitsdatum gilt: Nur bis zu dessen Ablauf haftet der Hersteller für Wirksamkeit und Unbedenklichkeit – aber eben auch nur bei sachgerechter Lagerung. Man kann es einem Arzneimittel nicht immer ansehen, ob es nach Ablauf des Verfallsdatums noch intakt ist. Der Wirkstoff kann sich dabei nicht nur zersetzen und dadurch unwirksam werden, sondern es können sich auch schädliche Abbauprodukte bilden.
Besonders problematisch ist die Haltbarkeit bei flüssigen Arzneiformen wie den derzeit so knappen Fieber- und Antibiotikasäften. Ist die Flasche eines Fieber- und Schmerzsaftes oder auch Hustensaftes erst einmal geöffnet, gilt nicht mehr das aufgedruckte Verwendbarkeitsdatum, sondern eine Aufbrauchfrist. Diese beträgt beispielsweise bei Nurofen®-Saft sechs Monate, bei Benuron®-Saft zwölf Monate, bei anderen Fertigpräparaten wie dem Antiallergikum Cetirizin-Saft der Firma AL aber beispielsweise nur zwölf Wochen.
Noch kürzer ist die Aufbrauchfrist bei Säften, die die Apotheken aus Mangel an Fertigpräparaten in der Rezeptur hergestellt haben oder auch bei Antibiotika-Suspensionen, die die Eltern selbst aus einem Pulver hergestellt haben.
Angebrochene Säfte sollten zudem je nach Präparat im Kühlschrank gelagert werden (nicht an der Hinterwand und nicht in der Tür) – fraglich, ob man darauf bei weitergegebenen Arzneimitteln vertrauen kann.
Viele der Fieber- und Schmerz- sowie Antibiotika-Säfte werden zudem mit einer Dosierspritze geliefert. Diese Applikationshilfe muss nach jedem Gebrauch gründlich gereinigt werden – sie von einem kranken Kinden zum nächsten weiterzugeben, ist aus hygienischen Gründen äußerst fragwürdig. Die Applikationshilfen sind zudem zum Teil produktspezifisch und lassen sich nicht einfach austauschen oder ersetzen.
Wichtig für die Dosierung ist neben einer geeigneten Applikationshilfe natürlich auch der Beipackzettel, der vorhanden seien muss – gerade bei der gewichts- oder altersbasierten Dosierung von Arzneimitteln für Kinder. Niemand sollte sich nicht auf Dosierempfehlungen anderer Laien verlassen.
Dass angebrochene Nasensprays und Nasentropfen nicht weitergegeben dürfen – auch nicht an andere Familienmitglieder –, sollte selbstverständlich sein, da sie bei der Anwendung direkt mit dem verkeimten Nasensekret in Kontakt kommen. Sie dürfen auch nicht bis zur nächsten Erkältung für denselben Patienten aufbewahrt werden, sondern gehören nach dem Infekt entsorgt (über den Hausmüll).
Normalerweise wird empfohlen, in der Hausapotheke für jedes Familienmitglied ein geeignetes Fieber- und Schmerzmittel vorrätig zu halten. Es reicht dann aber auch eine Packung Saft oder Zäpfchen für die jüngeren Kinder oder eine Packung Tabletten für die größeren Kinder und Erwachsenen. Wer Medikamente hamstert, verschärft das Problem für die Allgemeinheit.
»Lassen Sie sich nicht verunsichern durch populistische ›Empfehlungen‹ – es geht um Ihre Gesundheit«, warnt Hessens Apothekerkammerpräsidentin Funke. »Die Arzneimittelsicherheit gehört in die Hände von den Fachleuten, denen Sie vertrauen können. Damit Patienten gut geschützt sind, bestehen durch den Gesetzgeber hohe Anforderungen an Arzneimittel und an Apotheken – das ist gut und richtig.«
Und auch die Standesvertretung der Ärzteschaft steht nicht geschlossen hinter den Äußerung von BÄK-Präsident Reinhardt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sprach sich heute sogar explizit dagegen aus.
So warnte KBV-Chef Dr. Andreas Gassen davor, gebrauchte oder gar abgelaufene Arzneimittel im Nachbarschafts- oder Freundeskreis zu tauschen oder abzugeben. »Das Risiko ist einfach zu groß, dass durch solche eigentlich gut gemeinten Solidaritätsaktionen mehr Schaden als Nutzen bis hin zu Gefahren für Leib und Leben angerichtet werden.«
Sein Stellvertreter Dr. Stephan Hofmeister ergänzte: »Unverträglichkeiten von Medikamenten, die Gefahren abgelaufener Arzneien, die Unkenntnis, aus welchen Quellen die angebotenen Mittel und Tabletten überhaupt stammen – alleine diese Aspekte zeigen, dass die fachkundige Beratung und Abgabe unabdingbar ist. Alles andere wäre lebensgefährlich und unverantwortbar.«