Von Influencer-Marketing bis zu Fehlinformationen |
| Theo Dingermann |
| 11.11.2025 12:00 Uhr |
Mal schrill, mal hipp, mal pseudoseriös – Fitness-Influencer propagieren sehr häufig verschiedenste Nahrungsergänzungsmittel. Grenzen der Selbstmedikation kommen dabei regelhaft zu kurz. / © Getty Images/Jena Ardell
Das riesige Angebot für Nahrungsergänzungsmittel (NEM) ist für Konsumenten oft unüberschaubar. Beiträge von Influencern in den sozialen Medien erhalten vielfach massive Fehl- und Desinformation. Dies nahmen Forschende der Universität Lübeck zum Anlass, um nicht nur auf die Risiken, sondern auch auf Chancen hinzuweisen und eine Neugestaltung der Strukturen zu fordern.
Denn die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung ist erschreckend gering ausgeprägt, wie eine aktuelle repräsentative Studie zeigte. Demnach verfügen 82 Prozent der Bevölkerung nicht über ausreichende Fähigkeiten, gesundheitsbezogene Informationen angemessen zu beurteilen.
In einer Publikation, die jetzt im »Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz« erschien, beschreiben Emma C. Gauch und Professor Dr. Martin Smollich vom Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck die Probleme und leiten konkrete Handlungsempfehlungen ab, um NEM-spezifische Strukturen im Kontext sozialer Medien so zu gestalten, dass dies sowohl den Verbrauchern als auch seriösen Herstellern von NEM zugutekommt.
Zunächst differenzieren die Autoren zwischen Fehlinformation (unbeabsichtigte Falschaussagen) und Desinformation (absichtliche Täuschung). Beide Phänomene breiten sich in den sozialen Medien rasant aus und wirken besonders stark im Gesundheits- und Ernährungsbereich. Zudem verstärken Algorithmen die emotionale Tonalität und den sogenannten »Social-Proof-Effekt«. Darunter versteht man ein induziertes Vertrauen in die Informationen durch Likes und Shares, was falsche Aussagen häufig glaubwürdiger erscheinen lässt als korrekte, evidenzbasierte Informationen.
Hinzu kommt, dass Influencer als relevante Verstärker für NEM-bezogene Inhalte fungieren. Aus empirischen Analysen weiß man, dass 71 Prozent der Beiträge deutschsprachiger Fitness-Influencer Markenpräsenz aufweisen. 75 Prozent dieser Beiträge bewerben Nahrungsergänzungsmittel, was nur bei 6 Prozent dieser Posts korrekt als Werbung gekennzeichnet ist. Das führt dazu, dass ökonomisch motivierte Desinformationen als persönliche Empfehlung erscheinen.
Problematisch ist auch, dass die Informationen nicht nur unvollständig, sondern bezogen auf Angaben zu Inhaltsstoffen, Dosierungen und Risiken oft auch regelhaft falsch sind. Zudem werden vielfach übertriebene Heilsversprechen (zum Beispiel Detox-, Anti-Aging-, Immunboosting-Effekte) vermittelt, die nicht selten gegen die EU-Health-Claims-Verordnung verstoßen.
Dies unterstreicht auch eine YouTube-Analyse zu Multinährstoffpräparaten. Bei 84 Prozent der Videos wurden keine potenziellen Risiken erwähnt. Zudem wurden 90 Prozent der Instagram-Werbeaussagen zu NEM als unzulässig eingestuft.
Dies ist bedenklich, da durch die mangelhaften Informationen nicht nur Fehlkäufe gefördert, sondern auch Gesundheitsrisiken in Kauf genommen werden. Denn durch die geringe Fachkenntnis werden vielfach Kompetenzen überschätzt und riskante Selbstmedikationsentscheidungen getroffen.
Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass knapp 21 Prozent der Befragten unter Patienten, die an Akne litten, den Empfehlungen in den sozialen Medien folgten. Im Rahmen einer aktuellen Befragung unter 320 Patientinnen, die eine Brustkrebsdiagnose erhalten hatten, stieg der Anteil derer, die NEM einnahmen, von 20 Prozent vor der Diagnose auf fast 65 Prozent nach der Diagnose.
Trotz der Risiken bieten Informationen über soziale Medien auch Potenzial für eine evidenzbasierte Wissenschaftskommunikation. So könnten soziale Medien auch niedrigschwellig, visuell ansprechend und personalisiert Aufklärung über Nutzen und Risiken von NEM streuen, wie positive Beispiele zeigen. Inhalte mit Hashtags wie #dietpills vermitteln durchaus auch kritisch korrekte Botschaften. Und parasoziale Beziehungen lassen sich auch konstruktiv nutzen, etwa um gesundheitsförderliches Verhalten zu motivieren.
Die Autoren leiten aus der von ihnen beschriebenen Datenlage fünf zentrale Handlungsfelder ab:
Zu fordern wäre nach Meinung der Forschenden politische Maßnahmen und Reformen bei den Algorithmen, um strukturelle Verzerrungen zu korrigieren. Auf eine freiwillige Selbstregulierung der Plattformen zu setzen, kann allerdings wohl nicht erwartet werden.
Soziale Medien prägen zunehmend das Gesundheitswissen der Bevölkerung, insbesondere zu Nahrungsergänzungsmitteln. Fehl- und Desinformation stellen ein akutes Risiko für die öffentliche Gesundheit dar. Allerdings bieten sich auch kommunikative Chancen.
Dazu wäre es erforderlich, dass Behörden, Wissenschaft, Fachgesellschaften und Plattformbetreiber interdisziplinär zusammenarbeiten. Nur so ließe sich eine digitale Ernährungs- und Gesundheitskommunikation etablieren, die Verbraucher schützt und gleichzeitig seriöse Hersteller stärkt.