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Wissenschaftsforschung

Viele Daten, wenig Konsens

Manche Aussage zur Erkrankung durch das SARS-CoV-2 Virus musste schon korrigiert werden, manche Studie wurde zurückgezogen. Warnungen werden ausgesprochen und kurz danach wieder abgeschwächt. In der Bevölkerung mehren sich Skepsis und Misstrauen, Verschwörungstheorien gewinnen an Boden. Zeit für einen Blick in die  Geschichte und ein  Gespräch mit Professor Dr. Lorraine Daston, emeritierte Direktorin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
Hannelore Gießen
29.05.2020  08:00 Uhr

PZ: Ein völlig neues Virus fordert die Welt heraus. Hohe Erwartungen richten sich an die Wissenschaft. Doch über wichtige Fragen zum Erreger oder zur Covid-19 wird auch viel gestritten. Was können wir von der Wissenschaftsgeschichte lernen?

Daston: Dieses Virus ist in der Tat ein Novum. Da kann es keine Sicherheit geben. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir länger in einer Zeit der Unsicherheit leben werden. Wenn wir die Wissenschaftsgeschichte betrachten, gibt es Phasen, in denen sich ein Konsens herauskristallisiert, aber dann wieder Phasen der Veränderung. Das ist der Preis des wissenschaftlichen Fortschritts.

PZ: Über Jahrhunderte gab es zwei sich ergänzende Wege, zu Wissen zu kommen: Experiment und Theorie, später ergänzt durch die Modellierung. Gerade von diesen Modellrechnungen hängen derzeit viele Entscheidungen ab, und wir haben Modelle, die sich deutlich unterscheiden.

Daston: Modellierung kennen wir seit dem 17. Jahrhundert, in der Astronomie sogar schon seit der Antike. Ich finde es sogar nützlich, dass wir unterschiedliche Modelle haben. In einer Zeit der Unsicherheit ist es besser, mehrere Wetten laufen zu haben. Je nachdem, in welche Richtung sich das Wissen über das Virus entwickelt, können wir gleich auf das eine oder andere Modell zurückgreifen.

PZ: Welche Rolle spielt die Beobachtung auf dem Weg, Wissen zu generieren?

Daston: Wir leben in einer Zeit der Wiederkehr der Beobachtung, die sonst als arme Verwandte des Experiments gilt. Im Augenblick kommt es tatsächlich darauf an, dass ein Arzt in Berlin sich mit einem Arzt in Wuhan über seine Beobachtungen austauscht, der Mediziner aus Bergamo mit dem britischen Kollegen twittert. Was es sonst nie gäbe: Anekdotische Fallberichte und auch schwache Korrelationen werden jetzt in einem Peer-Review-Journal publiziert. Später werden aus Korrelationen Kausalitäten werden. Später werden wir in der Sammlung von Einzelbeobachtungen ein Muster erkennen, das einer Gauß’schen Verteilung ähnelt und uns – bei aller individuellen Variabilität – ein kohärentes Bild eröffnen wird. Was SARS-CoV-2 betrifft, sind wir im Moment wieder auf dem Erkenntnisstand und der Methodik des 17. Jahrhunderts. 

PZ: Objektivität ist ein Ziel moderner Wissenschaft, mehr noch ihre unabdingbare Voraussetzung. Was bedeutet wissenschaftliche Objektivität genau?

Daston: Es ist der Versuch, alle möglichen Fehler, verursacht durch Subjektivität, auszuschalten. Objektivität ist ein Ideal, dem wir uns nur annähern können. Dieses Bestreben bleibt eine unendliche Aufgabe.

»Wir müssen jetzt risikofreudiger sein«

PZ: Gewährleistet wird Objektivität durch einen mehrstufigen Prozess, bei dem ein Forschungsergebnis kritisch überprüft wird, zunächst unter Fachkollegen. Doch jetzt wird schon das Preprint veröffentlicht, noch vor einer Begutachtung in einem Peer-Review-Verfahren. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Daston: Für eine Zeit der Beobachtungen, in der wir jetzt leben, ist das in Ordnung, auf die Dauer wird es nicht funktionieren. Möglicherweise wird sich eine Begutachtung im Nachhinein mit öffentlichen Kommentaren etablieren, wie es in der Experimentalphysik schon praktiziert wird. Wir müssen jetzt aber insgesamt risikofreudiger sein als sonst und beispielsweise vielleicht auch einen Impfstoff schneller zulassen, als es dem etablierten Procedere entsprechen würde. Das ist jedoch nicht nur eine wissenschaftliche Entscheidung, sondern neben der individuellen auch eine gesellschaftliche und damit auch eine politische.

PZ: Verändert sich der Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit? Neu ist, dass sich viele Wissenschaftler direkt an die Öffentlichkeit wenden, über Blogs, Tweets oder Podcasts.

Daston: Das finde ich sehr gut, vorausgesetzt, die Bürger werden so präzise und verständlich wie möglich informiert. Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich das Vertrauen der Bürger in die Forschung vertiefen würde. Doch dazu müssen sie die Arbeitsweise der Wissenschaftler besser verstehen und ein realistischeres Bild von Wissenschaft vermittelt bekommen, deren Weg im Moment einem Tasten in der Dunkelheit entspricht. Deshalb müssen auch Unsicherheiten bei der Methode oder bei den Daten kommuniziert werden, indem beispielsweise der Fehlerbalken für Messwerte oder das Konfidenzintervall bei Studienergebnissen beschrieben wird.

PZ: Ich finde es sehr beeindruckend, wie jetzt Wissen gebündelt wird und was in der kurzen Zeit schon alles geklärt wurde: Die Sequenz des Virus war Mitte Januar analysiert, jetzt kennen wir schon die Struktur des Proteins, mit dem das Virus an die Zellen bindet.

Daston: Ja, so schnell war Wissenschaft noch nie. Das ist eindrucksvoll, doch alles Wissen ist immer nur vorläufig. Gewissheit kann auch die beste Methode nicht erzeugen. Das ist nicht möglich und widerspricht auch dem Wesen der Wissenschaft. Zwischen Nichtwissen und Gewissheit gibt es jedoch alle Abstufung von Wahrscheinlichkeit. Es macht einen großen Unterschied, ob wir für ein Forschungsergebnis eine Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent haben oder nur eine von 20 Prozent. Auch das lehrt die Geschichte.

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