Vamorolon als neue Corticoid-Alternative |
Brigitte M. Gensthaler |
17.10.2023 15:00 Uhr |
Aufstehen aus der Rückenlage erfordert viel Muskelkraft. Die Geschwindigkeit, mit der Patienten aus der Rückenlage aufstehen, ist ein anerkannter Marker für die Muskelfunktion (Symbolbild). / Foto: Adobe Stock/fascinadora
Die Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) ist eine fortschreitende Muskelerkrankung. Die häufigste Ursache ist ein genetisch bedingtes Fehlen oder eine Funktionsänderung des Muskelproteins Dystrophin, das für die strukturelle Stabilität der gesamten Muskulatur, einschließlich der Skelett-, Zwerchfell- und Herzmuskulatur, unerlässlich ist. Da die genetischen Defekte X-chromosomal vererbt werden, sind fast ausschließlich Jungen betroffen. Fehlt Dystrophin vollständig, resultiert eine DMD.
Das neue Medikament ist laut Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie bei Patienten ab vier Jahren indiziert. Agamree wird als orale 40 mg/ml-Suspension erhältlich sein. Der Wirkstoff Vamorolon ist ein sogenanntes dissoziatives Corticosteroid. Es bindet selektiv an Glucocorticoid-Rezeptoren und wirkt entzündungshemmend und hemmt auch die Aktivierung von Mineralocorticoid-Rezeptoren durch Aldosteron. Nach Angaben von Santhera verändert Vamorolon die nachfolgende Aktivität der Rezeptoren, was möglicherweise die Wirksamkeit von den bekannten Nebenwirkungen der Corticoide abkoppeln, also »dissoziieren« kann. Damit biete es eine Alternative zu Corticosteroiden, die derzeit standardmäßig bei Kindern und Jugendlichen mit DMD eingesetzt werden. Der genaue Wirkmechanismus bei Patienten mit DMD ist laut CHMP unbekannt.
Hoch dosierte Corticoide zögerten den Verlust von Muskelkraft und motorischen Funktionen hinaus, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) in einer Ratgeberbroschüre. Ziel einer Cortison-Behandlung sei es, Muskelkraft und -funktion länger zu erhalten. Dies verbessere unter anderem die Gehfähigkeit, die Funktion der Arme und die Atemmuskulatur. Prednison und Deflazacort (off label) würden am häufigsten bei Duchenne-Patienten eingesetzt.
In einer randomisierten placebokontrollierten Phase-IIb-Studie (NCT03439670) wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Vamorolon geprüft. In den ersten 24 Wochen erhielten 121 corticoidnaive Jungen zwischen vier und sieben Jahren mit bestätigter DMD Vamorolon (2 oder 6 mg/kg/Tag) oder Prednison (0,75 mg/kg/Tag) oder Placebo. Es folgte eine 24-wöchige Periode, in der alle Teilnehmer Vamorolon erhielten und die Persistenz der Wirksamkeit beurteilt wurde. Die Ergebnisse wurden 2022 im Fachblatt »JAMA Neurology« publiziert.
Vamorolon erreichte den primären Endpunkt in Woche 24 (Aufstehgeschwindigkeit aus der Rückenlage in der 6-mg/kg-Gruppe versus Placebo) und war über 48 Wochen anhaltend wirksam in sekundären Endpunkten. Dazu gehörten unter anderem die Aufstehgeschwindigkeit in der 2-mg/kg-Dosis, der Sechs-Minuten-Gehtest und die Zeit zum Laufen/Gehen über zehn Meter nach 24 Wochen. Das neue Medikament war relativ gut verträglich. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Cushing-ähnliches Aussehen, Erbrechen, Gewichtszunahme und Reizbarkeit. Größenwachstum und Knochenmarker nahmen unter Prednison ab, nicht aber unter Vamorolon. Möglicherweise sei der Neuling sicherer als Prednison in der Langzeittherapie bei DMD-Patienten, folgern die Autoren aus ihren Ergebnissen.
Vamorolon hat in den USA und in Europa für DMD den Status eines Arzneimittels für seltene Krankheiten (Orphan Drug).