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Auftauender Permafrost

Uralte Keime als moderne Gefahr

Durch den Klimawandel tauen Permafrostböden in bisher unbekanntem Tempo auf und mit ihnen auch uralte im Eis konservierte Mikroben. Welche Gefahr geht von ihnen für die Umwelt und die Menschheit aus?
AutorKontaktChristina Hohmann-Jeddi
Datum 16.08.2023  07:00 Uhr

Wenn neue Erreger auf eine immunnaive Bevölkerung treffen, kann das gefährlich werden. Das hat zuletzt das Coronavirus SARS-CoV-2 gezeigt. Aber auch Jahrtausende alte Mikroben, die in Permafrostböden eingelagert sind, könnten, wenn die Böden auftauen, zur Bedrohung werden. Eine ganze Reihe von lebensfähigen Bakterien und aktiven Viren wurden schon aus altem Eis, Gletschern oder Permafrostböden isoliert.

Der Klimawandel lässt derzeit dieses alte Eis in bisher ungekannter Geschwindigkeit auftauen. Welche Keime hier freigesetzt werden könnten, haben Forschende um Dr. Ruonan Wu vom Pacific Northwest National Laboratory in Richland, USA, 2022 in einem Review zusammengefasst (»One Earth«, DOI: 10.1016/j.oneear.2022.03.010). Demnach sind Permafrostböden ein Reservoir für zumeist uncharakterisierte Mikroorganismen und Viren, von denen viele noch lebensfähig sein könnten.

Die meisten Permafrostareale liegen in den Polargebieten und den arktischen und antarktischen Tundren. Sie machen etwa 15 bis 24 Prozent der Landmasse der nördlichen Hemisphäre aus. Unter Permafrost werden in den Geowissenschaften Böden verstanden, die über mindestens zwei Jahre kontinuierlich eine Temperatur von unter 0 °C aufwiesen. Die meisten Formationen sind dabei deutlich älter und stammen noch aus erdgeschichtlichen Eiszeiten. Der Permafrost kann mehrere hundert Meter tief in die Erde reichen, wobei die Eisschichten von aktiven Schichten überlagert sind, die saisonale Tau-Gefrier-Zyklen durchlaufen.

Der Klimawandel erwärme die Permafrostgebiete in besonderem Maße, schreiben Wu und Kollegen. Die Folge: 22 bis 64 Prozent von ihnen könnten Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2100 auftauen. Dadurch können zum einen große Mengen von Methan freigesetzt werden, da Permafrostböden die größten Kohlenstoffreservoire der Welt sind. Dies würde die Erderwärmung weiter beschleunigen. Zum anderen könnten auch vor Jahrtausenden eingefrorene Mikroorganismen auftauen und in die Umwelt gelangen.

Mikroben im Permafrost-»Kühlschrank«

Welche Keime könnten das sein? Im Permafrost kommen Bakterien, Archaeen (früher Urbakterien genannt), Pilze, Algen, Protisten (Einzeller mit echtem Zellkern) und Viren vor. Dabei unterscheiden sich die mikrobiellen Zusammensetzungen der verschiedenen Schichten, vor allem der aktiven und der Eisschichten, deutlich. In Permafrostböden wurden eine Vielzahl von Bakterienarten entdeckt, darunter die Bodenbewohner Actinobacteria, Firmicutes, Cyanobacteria, Chloroflexi, Bacteroidetes und Proteobacteria. Die bisher am häufigsten im auftauenden Permafrost beobachteten Archaeenarten sind Euryarchaeota, die aus Fermentationsprodukten Methan erzeugen können.

Auch Viren sind im Permafrost zu finden: Untersuchungen der aktiven Schicht von Permafrostböden zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Viren doppelsträngige DNA- (dsDNA-)Bakteriophagen sind, also Viren, die nur Bakterien infizieren. Diese Phagen seien weitgehend nicht mit anderen bekannten Phagen verwandt und ein großer Teil von ihnen sei aktiv, heißt es in dem Review. Weniger gut untersucht sei das Vorkommen von Viren mit einzelsträngigem DNA-Genom (ssDNA) oder mit RNA-Genom. Erstere machten nur einen kleinen Teil der Viren in Permafrostböden aus und hätten vor allem Bakterien und Mikro-Eukaryoten wie Algen als Wirte.

Welche Gefahr stellen die konservierten Mikroorganismen und Viren dar?

Früher war angenommen worden, dass im Permafrost enthaltene Mikroben wegen der widrigen Bedingungen (Temperatur von unter 0 °C, Sauerstoff- und Wassermangel) nicht lebensfähig seien. Im vergangenen Jahrzehnt wurden aber zunehmend intakte Bakterien und aktive Viren aus Permafrostböden isoliert. So könnten Bakterien in einer Art Ruhezustand überdauern und aktiv werden, wenn das Eis taut, schreibt das Team um Wu.

Das beste Beispiel hierfür sei Bacillus anthracis, der Erreger des Milzbrands. Das Stäbchenbakterium bildet besonders robuste, kälteresistente Sporen. Im Jahr 2016 kam es in Sibirien zu einem Milzbrand-Ausbruch unter Rentieren, bei dem 2000 Tiere und in der Folge auch ein Mensch ums Leben kamen. Die Ursache waren im Permafrost konservierte Kadaver von infizierten Tieren, die nach dem Auftauen die Milzbrandsporen freisetzten. Solche Ausbrüche könnten bei zunehmendem Auftauen der Permafrostböden noch häufiger werden, heißt es in der Publikation.

Zudem kämen Antibiotika-Resistenzgene in den überdauernden Bakterien, etwa gegen β-Lactam, Tetrazykline und Glykopeptide häufig vor. Diese seien auch in Proben von 30.000 Jahre altem Eis, also lange vor der Entdeckung der Wirkstoffe, zu finden. Tauende Permafrostböden stellten somit ein Reservoir für Antibiotika-Resistenzgene dar.

Aus dem Reich der Pilze wurden einige Vertreter im Permafrost entdeckt, zum Beispiel Aspergillus- und Penicillium-Spezies. Einige Pilze sind Pflanzenpathogene; aktive humanpathogene Pilze wurden im Permafrost bislang nicht gefunden.

»Zombieviren« aus dem Eis

Ähnlich sehe es auch bei den Viren aus, heißt es in dem Review. Die am häufigsten vertretenen Phagen seien per se nicht humanpathogen. Zudem könnten im Eis konservierte Viren den Auftauprozess schlecht überstehen. So wurden etwa Variola-Viren, die Erreger der Pocken, in aufgetauten menschlichen Überresten aus dem 17. bis 19. Jahrhundert entdeckt. Das Genom der DNA-Viren war aber hochgradig zerstört. Obwohl humanpathogene DNA-Viren in Permafrostböden nachgewiesen wurden, sei das Risiko für Infektionen durch sie daher sehr gering, schreiben die Autoren um Wu. Bislang sei auch noch kein entsprechender Fall von Virusinfektionen aus dem auftauenden Permafrost bekannt geworden.

Mit RNA-Viren, zu denen etwa die Grippeviren zählen, verhält es sich ähnlich: Auch hier nimmt das Genom Schaden. So sind Versuche aus den 1990er-Jahren, das Pandemievirus der Spanischen Grippe Influenza-A(H1N1) aus menschlichen Überresten im Permafrost zu rekonstruieren und reaktivieren, gescheitert, weil die RNA stark zersetzt war.

Erfolgreich war man allerdings mit zwei Vertretern der Riesenviren, Pithovirus sibericum und Mollivirus sibericum. Sie wurden 2014 beziehungsweise 2015 aus 30.000 Jahre altem sibirischen Permafrostboden isoliert und wiederbelebt. Nach dem Auftauen konnten sie eine moderne Version ihres Wirts infizieren. Die von einigen Medien als »Zombieviren« betitelten Viren stellen jedoch keine Bedrohung für Menschen und andere Tiere dar, da ihre natürlichen Wirte Mikro-Eukaryoten wie Protisten und Algen sind. Inzwischen konnte das französisch-russisch-deutsche Team 13 weitere Viren, alles Riesenviren, aus dem Permafrost reaktivieren (»Biorxiv« 2023).

Das Fazit der Review-Autoren: Obwohl durch tauenden Permafrost freigesetzte Krankheitserreger ein potenzielles Infektionsrisiko für die etwa fünf Millionen Menschen in Polarregionen darstellen, sei die Gefahr durch die zeitreisenden Pathogene insgesamt gering. Es sei aber noch viel Forschungsarbeit notwendig, um die Risiken, die von den freigesetzten Pathogenen ausgehen, besser einschätzen zu können.

Simulierte Mikroben zeigen reale Bedrohung

Eine aktuelle Studie hat genau das gemacht und die Risiken von uralten Mikroben, die auf die moderne Welt treffen, für Umwelt und Menschheit anhand von Simulationen kalkuliert. Die Forschenden um Dr. Giovanni Strona vom Joint Research Center der Europäischen Kommission und Professor Dr. Corey Bradshaw von der Flinders University in Australien nutzten für ihre Untersuchungen eine Softwareplattform für künstliches Leben namens Avida. Auf dieser simulierten sie die Freisetzung von Krankheitserregern, die sich zunächst in Koevolution mit biologischen Gemeinschaften befunden hatten, in zukünftige Zustände dieser Gemeinschaften.

Wie das Team Ende Juli im Fachjournal »PLOS Computational Biology« berichtete, konnten viele der konservierten Krankheitserreger überleben und sich weiterentwickeln. In 3,1 Prozent der Fälle wurden sie in der Gemeinschaft, in die sie eingedrungen waren, außergewöhnlich dominant. In wenigen, höchst unvorhersehbaren Fällen (1,1 Prozent) führten die Eindringlinge zu erheblichen Verlusten der Artenvielfalt (bis zu –32 Prozent) oder zu Gewinnen in der Artenvielfalt (bis zu +12 Prozent) im Vergleich zu den Kontrollgemeinschaften ohne Invasion.

»Angesichts der schieren Fülle alter Mikroorganismen, die regelmäßig in moderne Gemeinschaften eingeschleppt werden, stellt eine so geringe Wahrscheinlichkeit von Ausbrüchen immer noch ein erhebliches Risiko dar«, schreiben die Autoren um Strona. Ihrer Auffassung nach zeige die Untersuchung, dass zeitreisende Krankheitserreger aus dem Permafrost kein Science-Fiction-Szenario seien, sondern ein Risiko, gegen das man sich wappnen sollte.

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