Leiden an generalisierter Angst |
23.09.2002 00:00 Uhr |
von Franz Kohl, Freiburg
Exzessive Sorgen, Befürchtungen und Ängste quälen Patienten mit einer generalisierten Angsterkrankung. Oft kommen weitere psychiatrische Leiden und körperliche Probleme hinzu. Obwohl die Patienten in ihrem persönlichen, sozialen und beruflichen Leben erheblich eingeschränkt sind, suchen viele erst nach Jahren einen Facharzt auf.
Die Bezeichnung „Generalisierte Angsterkrankung“ oder kurz GAD wurde vor etwa zwei Jahrzehnten eingeführt. Historisch kann man darin eine Ausgliederung aus dem von Sigmund Freud (1856 bis 1939) geschaffenen „Gesamttopf“ der Angstneurose sehen. Die generalisierte Angsterkrankung ist eine recht häufige psychiatrische Störung, die nicht nur das körperliche Befinden der Betroffenen schwer und oft chronisch beeinträchtigt. Bei den meisten Patienten leidet auch das soziale und berufliche Leben.
Aus vielerlei Gründen gehen Patienten mit GAD oftmals zunächst zum Allgemeinarzt oder Internisten. In der Praxis des Nervenarztes oder Psychiaters werden sie primär eher selten gesehen. Obwohl insgesamt die Diagnostik- und Behandlungssituation noch unbefriedigend ist, gibt es einige neuere und viel versprechende Entwicklungen sowohl in der Pharmako- wie auch der Psycho- und Verhaltenstherapie. Dazu zählen beispielsweise die Serotoninagonisten oder besondere Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie, die eine häufig von übertriebenen Befürchtungen geleitete (katastrophisierende) Verarbeitung von Gefühlen und Erlebnissen modifizieren sollen.
Eine präzise Diagnose, die Abgrenzung zu anderen psychiatrischen Störungen und eine adäquate Behandlung erfolgen leider noch viel zu selten. Lediglich bei etwa der Hälfte der Patienten wird die „richtige“ Diagnose zeitnah gestellt; nur 5 bis 10 Prozent erhalten durchgängig eine nach modernen Standards adäquate Behandlung. Doch nur die exakte Zuordnung und eine langfristige Behandlungsstrategie können verhindern, dass die GAD chronifiziert und die Lebensqualität des Patienten schleichend und mit katastrophalen Folgen beschneidet.
Ängste, Sorgen und Anspannung
Woran leiden die Patienten? Hauptmerkmale der generalisierten Angsterkrankung sind exzessive vielfältige Sorgen, Befürchtungen und/oder Ängste, die verschiedene Lebensumstände betreffen können. Definitionsgemäß leiden die Betroffenen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten an der Mehrzahl der Tage an solchen Sorgen und Ängsten. Diese werden typischerweise von den Patienten als kaum oder schwer kontrollierbar erlebt. Durch ihre Omnipräsenz und Vielfalt beeinträchtigen sie die Lebensführung erheblich.
Zusätzlich zu diesem Hauptsymptom müssen nach der DSM-Klassifikation (DSM: Diagnostic and Statistical Manual) mindestens drei von sechs weiteren Symptomen zeitgleich auftreten, um die Diagnose einer GAD stellen zu können. Diese charakteristischen Symptome sind Muskelanspannung, Ruhelosigkeit, leichte Ermüdbarkeit, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und Reizbarkeit.
Wesentlich für die Diagnose ist eine anhaltende, diffuse, frei fluktierende Angst, die nicht auf bestimmte Situationen und Objekte beschränkt ist. Das klinische Bild ist sehr unterschiedlich (siehe Kasten).
Häufige Symptome der generalisierten Angststörung
Viele Patienten sprechen auf eine anxiolytische Behandlung nicht ausreichend an oder erleiden innerhalb weniger Monate einen Rückfall. Die Wahrscheinlichkeit einer spontanen Vollremission ist gering: Während bei Patienten mit Depression Remissionsraten von bis zu 80 Prozent erzielt werden, liegt die Rate an Komplettremissionen bei GAD-Patienten zwischen 15 und 25 Prozent. Häufig schwankt die Symptomatik zwischen gering ausgeprägter („subsyndromaler“) Angst und ausgeprägter GAD (worrying und warning). Unter diesen Bedingungen lässt sich die berufliche und soziale Integration oft nur schwer wiederherstellen.
Die international gängigen psychometrischen Rating-Scalen wie die Hamilton-Angst-Skala, die in den meisten klinischen Studien zu Grunde gelegt werden, sind im Praxisalltag nur bedingt anwendbar, geben aber oft wichtige Hinweise. In der täglichen Praxis ist die Frage nach Signalereignissen praktikabel, die zum Beispiel lauten kann: Welche drei Dinge tun Sie, wenn Sie sich wohl fühlen, aber nicht, wenn Sie ängstlich sind? Die Patienten nennen meist alltägliche Tätigkeiten wie Kochen, Gärtnern, abendliches Ausgehen oder die Unfähigkeit zu arbeiten. Anhand dieser individuellen Antworten kann der Arzt den Grad der Alltagsbeeinträchtigung, den Verlauf und Rückfälle ausreichend genau erkennen.
Körperlich und seelisch krank
Nach bisherigen Häufigkeits- und Verlaufsuntersuchungen ist die GAD recht häufig. Die Querschnittsprävalenz wird mit etwa drei Prozent angegeben; die Lebenszeitprävalenz liegt um fünf Prozent. In einer Studie der WHO in deutschen Allgemeinpraxen fand sich – allerdings unter Zugrundelegung der ICD-10-Kriterien – sogar eine Punktprävalenz von 10 Prozent. Damit ist die GAD eine der häufigsten psychiatrischen Störungen in der medizinischen Primärversorgung.
Meistens erkranken die Menschen erstmals zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Bei näherem Hinsehen findet man oft Hinweise, dass die Betroffenen im Kindes- und Jugendalter als ängstlich, schreckhaft und nervös aufgefallen sind oder Teilsymptome bereits in dieser Zeit vorlagen.
Definitionsgemäß verläuft die GAD chronisch. Die Symptomatik muss länger als sechs Monate vorgelegen haben, um überhaupt die Diagnose stellen zu können. Der weitere Verlauf umfasst oftmals Jahre, nicht selten Jahrzehnte. Dabei können berufliche und sonstige Belastungen die Beschwerden deutlich verschlechtern. Nach einer älteren amerikanischen Studie leiden mehr als 40 Prozent der Patienten länger als fünf Jahre an der Störung, zehn Prozent sogar seit zwei Jahrzehnten.
Eine generalisierte Angsterkrankung kommt selten allein. Meist wird sie von anderen, auch körperlichen Störungen und Krankheiten begleitet (siehe Kasten). Da sie zudem Ähnlichkeiten und Überlappungen mit etlichen anderen psychiatrischen Krankheitsbildern aufweist, ist sie nicht immer leicht zu erkennen und abzugrenzen. Bei einigen Begleiterkrankungen handelt es sich eher um allgemeine und verbreitete Symptome. Dann denken Patient und Arzt zunächst nicht in erster Linie an eine psychiatrische Erkrankung oder Angststörung. Zugleich wird verständlich, dass die Betroffenen sich oft lange gegen das „psychische“ Etikett und den Gang zum Psychiater oder Nervenarzt wehren.
Häufige Begleiterkrankungen
In einer kalifornischen Studie mit 1000 Patienten gaben 90 Prozent weitere psychiatrische Störungen an, vor allem Depression und Panikstörung. 40 Prozent litten an Agoraphobie, 30 Prozent an Sozialphobie und jeder Fünfte an einer einfachen Phobie. Mehr als 15 Prozent waren von Zwangsstörungen geplagt. Zudem bestand eine hohe Rate an funktionellen Beeinträchtigungen. Mehr als die Hälfte der Patienten war wegen emotionaler Probleme in den letzten 30 Tagen nicht zur Arbeit oder zur Schule gegangen.
Aus verschiedenen Studien lässt sich schließen, dass eine anhaltende GAD ein Vorbote von Panikstörung und Depression sein kann. Auch unter diesem Aspekt muss die Therapie auf eine anhaltende, volle Remission ohne Symptomatik abzielen.
Im Vergleich zu Patienten mit „reiner GAD“ werden komorbide Patienten häufiger in psychiatrische Kliniken eingeliefert. Sie weisen einen niedrigeren Bildungsstand und einen geringeren sozio-ökonomischen Status auf. Bei doppelt oder mehrfach Erkrankten liegen auch häufiger Alkohol- und Drogenmissbrauch vor. Es treten häufig Suizidgedanken auf, und immerhin 13 Prozent der Patienten berichteten in Studien von einem Suizidversuch.
Massive Beeinträchtigung Die generalisierte Angsterkrankung ist nach den modernen Klassifikationssystemen (DSM 4, ICD 10) durch das Hauptmerkmal „exzessive, generelle und vielfältige Sorgen, Befürchtungen und Ängste“ charakterisiert. Diese Sorgen beeinträchtigen das Leben der Patienten erheblich bis massiv. Die GAD verläuft oft chronisch. Viele Patienten leiden zusätzlich an psychiatrischen Begleiterkrankungen und vielfältigen psychosozialen Auswirkungen. Einen wichtigen, oft die Prognose wesentlich mitbestimmenden Faktor stellen Persönlichkeitsstörungen dar, insbesondere vom dependenten, vermeidenden oder passiv-aggressiven Typ.
Pharmakotherapie bis zur Remission
Die meisten Patienten haben bereits vielfältige Therapien versucht, bevor sie zum Psychiater oder Nervenarzt kommen. In systematischen Therapiestudien waren Medikamente sehr unterschiedlicher Stoffklassen der Placebogabe überlegen, so dass der Arzt auf wissenschaftlich und rational begründbare Pharmakotherapien zurückgreifen kann.
Dies gilt zunächst für Benzodiazepine, Antidepressiva und Betablocker; in den letzten Jahren ergänzen Serotoninagonisten, Neuroleptika und einige Phytotherapeutika das Spektrum. Bei bis zu 50 Prozent der Patienten konnten die Symptome in Studien reduziert werden, teilweise bis hin zum prämobiden Funktionsniveau. Nach Absetzen der Behandlung treten sie jedoch häufig wieder auf.
Hinsichtlich Effektivität, Wirk- und Nebenwirkungsprofil gelten die Serotoninagonisten, zum Beispiel Buspiron, als Präparate erster Wahl. Bedeutsame Alternativen bieten trizyklische Antidepressiva wie Trimipramin oder Doxepin, Maprotilin und Opipramol sowie zunehmend – nicht zuletzt wegen des günstigeren Nebenwirkungsprofils – Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin. Im eigenen ambulanten Erfahrungsbereich sprechen viele Argumente für Opipramol und/oder Buspiron.
Die Medikamente sind einschleichend zu dosieren bis zum Erreichen einer mittleren und individuell optimalen Dosis. Dabei setzt sich immer mehr die Einstellung durch, dass die medikamentöse Behandlung so lange fortzusetzen ist, bis ein erstes Ansprechen in eine Remission übergeht. In vielen Fällen tritt die Besserung wesentlich später als bei depressiven Störungen auf, oft erst nach zweimonatiger Behandlung.
In der allgemeinärztlichen Praxis werden auch niedrig dosierte Neuroleptika vorwiegend vom niederpotenten, gelegentlich auch vom mittel- oder hochpotenten Typ eingesetzt, ebenso Phytopharmaka, bis zum Widerruf der Zulassung Kava-Kava-, jetzt überwiegend Johanniskrautpräparate. Derzeit können Wirksamkeit und etwaige Risiken, zum Beispiel tardive Dyskinesien bei hochpotenten Neuroleptika, nicht abschließend und mit der naturwissenschaftlich wünschenswerten Deutlichkeit abgewogen werden.
Neue Studien belegen, dass das auch für die Behandlung der generalisierten Angststörung zugelassene Antidepressivum Venlafaxin langfristig einsetzbar ist. Auch mit der vorwiegend noradrenerg wirksamen Substanz Reboxetin lassen sich nach eigener ärztlicher Erfahrung Besserungen erzielen.
Eine Sondersituation besteht für Benzodiazepine. Diese sind bei den Betroffenen und besonders bei „akuter Indikation“ besonders beliebt, weisen aber die bekannten Probleme auf. Bereits nach wenigen Wochen lässt die Wirkung nach (Tachyphylaxie), bei längerem Gebrauch wird das Missbrauchspotenzial zunehmend bedeutsamer. Dies gilt insbesondere, wenn eine Persönlichkeitsstörung vom dependenten oder vermeidenden Typ vorliegt. Daher sind Benzodiazepine bei der GAD allenfalls als nachgeordnete, kurzfristige Behandlungsoption anzusehen und sollten zügig wieder ausgeschlichen werden.
Vielfältige Therapieoptionen Nach aktueller Studienlage sind für die Behandlung der GAD in erster Linie Serotoninagonisten (Buspiron), Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und trizyklische Antidepressiva wie Trimipamin und Doxepin geeignet. Venlafaxin und Reboxetin eröffnen zusätzliche Behandlungsperspektiven, die allerdings noch nicht vollständig abgeschätzt werden können. Ein günstiges Profil gerade für die Praxis hat die traditionelle Substanz Opipramol. Die im allgemeinärztlichen Bereich häufig eingesetzten Neuroleptika und Benzodiazepine weisen die bekannten Risiken (Spätdyskinesien, Abhängigkeitspotenzial) auf. Für Phytopharmaka liegen Hinweise auf eine Wirksamkeit, aber keine voll befriedigenden Behandlungsstudien vor.
Psychotherapeutisch unterstützt
In der Psychotherapie haben sich allgemeinpsychotherapeutische, tiefenpsychologisch und psychoanalytisch ausgerichtete Verfahren bisher als wenig effektiv erwiesen. Günstiger ist die Studiensituation für die kognitive Verhaltenstherapie. Dabei steht die Vermittlung von Wissen über die Entstehung und Aufrechterhaltung von Ängsten (Psychoedukation) im Vordergrund. Der Patient erhält Informationen über die Allgemeinsymptomatik von Ängsten und den „Teufelskreis der Angst“ und kann Entspannungsverfahren erlernen. Ein Schwerpunkt sollte auf der Bearbeitung der katastrophisierenden Verarbeitung liegen. Auch für die Kombination von progressiver Muskelentspannung mit kognitiver Instruktion sind positive Ergebnisse belegt.
Bei der Behandlung ist eine konstante Anbindung und wenn möglich eine konsequente Führung des Patienten vorrangig bedeutsam. Dabei benötigen die Betroffenen angesichts wiederkehrender Belastungen und damit verbundener Verschlimmerungen häufig auch beratende und beruhigende Unterstützung. Die hausärztliche Betreuung soll zudem Fehlentwicklungen wie Alkohol- oder Substanzabusus frühzeitig vermeiden. Nicht zuletzt kann die langjährige hausärztliche Betreuung dem Vertrauensverlust durch „Doktor-shopping“ und vielen negativen psychosozialen Auswirkungen (Vereinsamung, Arbeitsplatzgefährdung) vorbeugen.
Trotz der relativen Effektivität der psychotherapeutischen Verfahren ist die Gesamtprognose angesichts der Krankheits- und Verlaufscharakteristik nach wie vor problematisch.
Literatur
Der Autor
Franz Kohl studierte Medizin in Marburg und erhielt 1980 die Approbation als Arzt. Neben seiner Ausbildung in Neurologie und Psychiatrie beschäftigte er sich mit medizinhistorischen Fragen. 1985 wurde er mit einer Arbeit zu einem medizinhistorischen Thema promoviert. Seit 1987 widmet sich Kohl, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie und Rehabilitationswesen, besonders der Geschichte der Neuro- und der Verhaltenswissenschaften sowie den Grundlagen der naturwissenschaftlichen Medizin.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Franz Kohl
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