Mehr Arzneimittelsicherheit für Kinder |
05.09.2005 00:00 Uhr |
Viele kranke Kinder bekommen Medikamente, die nicht für sie zugelassen sind. Doch das Bewusstsein für die Risiken wächst. Eine Gesetzesinitiative der EU zu Kinderarzneimitteln sowie ein Diskussionspapier einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe der europäischen Arzneimittelagentur haben das Ziel, die Arzneimittelsicherheit für Kinder zu verbessern.
Viele Arzneimittel sind nur für Erwachsene oder höchstens für ältere Kinder zugelassen. Je jünger ein Kind ist und je ernsthafter es erkrankt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihm ein nicht zugelassenes (nicht klinisch geprüftes) Arzneimittel verabreicht wird. Doch die Aufmerksamkeit der Fachkreise, der Öffentlichkeit und der Politik für dieses Problem nimmt zu. Immer häufiger thematisieren Experten die Defizite in der Arzneimittelversorgung von Kindern (14). Eine Reihe von abgeschlossenen, laufenden und geplanten Aktivitäten auf europäischer Ebene soll diesem Missstand abhelfen. Zwei wichtige Initiativen werden hier vorgestellt.
Die EU schätzt, dass mehr als die Hälfte der in Europa zur Behandlung von Kindern eingesetzten Arzneimittel nicht an Kindern geprüft und nicht für diese Altersgruppe zugelassen sind. In diesen Fällen werden Arzneimittel »off label« oder »unlicensed« eingesetzt. Bei einem Off-label-Gebrauch wird ein auf dem Markt zugelassenes Medikament anders als in der Zulassung beschrieben eingesetzt, zum Beispiel hinsichtlich Dosierung, Altersgruppe, Indikation, Kontraindikation oder Applikationsweg. Beim »unlicensed« Gebrauch werden nicht oder noch nicht (Muster für klinische Prüfungen) auf dem Markt zugelassene Arzneimittel oder Chemikalien zur Therapie verwendet.
Die fehlenden klinischen Studien bedeuten eine geringere Sicherheit für den Patienten. Pädiater oder andere Ärzte machen unsystematisch experimentelle Heilversuche, die zu einem »Inselwissen« führen. Schlagen Heilversuche mit nicht zugelassenen Arzneimitteln fehl, werden sie der Fachöffentlichkeit typischerweise nicht vorgestellt. Dies birgt die Gefahr, dass solche Therapieversuche unabhängig voneinander an vielen Stellen wiederholt werden. Auf Grund mangelnder systematischer Erforschung fehlen fundierte Dosisempfehlungen, Warnungen vor möglichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen oder Angaben über mögliche Interaktionen. Es ist unbestritten, dass mehr klinische Studien für die Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern notwendig sind, jedoch ist deren Durchführung aus vielen, zum Beispiel ethischen und praktischen Gründen schwierig.
Die Prüfung von Arzneimitteln an Kindern wurde bereits vor einigen Jahren international harmonisiert. Die Leitlinie E 11 »Clinical Investigation of Medicinal Products in the Paediatric Population« der Internationalen Harmonisierungskonferenz (ICH) ist seit Juli 2002 in Europa gültig (5). In der im August 2004 in Kraft getretenen 12. AMG-Novelle sind klinische Studien an Kindern neu geregelt worden. Zusätzlich wurde beim BfArM eine Kommission »Arzneimittel für Kinder und Jugendliche« eingerichtet, die insbesondere im Rahmen von Zulassungsverfahren Stellungnahmen zur Anwendung von Arzneimitteln bei diesen Altersgruppen abgeben kann.
Nach der ICH-Richtlinie werden Kinder und Jugendliche in fünf Altersstufen eingeteilt (in diesem Artikel wird pauschal immer von »Kind« gesprochen). Auch diese fünf Gruppen (Tabelle 1) sind hinsichtlich der Applizierbarkeit und Akzeptanz von Arzneimitteln nicht homogen. Beispielsweise unterscheiden sich Kinder von zwei bis elf Jahren wesentlich bezüglich der Einnahme von oralen Arzneiformen. Während für Vorschulkinder bis fünf Jahre eher flüssige Arzneiformen geeignet sind, können Schulkinder zunehmend auch feste Arzneiformen einnehmen.
Tabelle 1: Kindliche Altersklassen nach der ICH-Richtlinie
Bezeichnung Alter Frühgeborenes Geburt vor kalkuliertem Termin Neugeborenes 0 bis 27 Tage Kleinkind 28 Tage bis 24 Monate Kind 2 Jahre bis 11 Jahre Jugendlicher 12 bis 18 Jahre
Es ist allgemein akzeptiert, dass unterschiedliche Applikationswege, Arzneiformen und Dosierungen für die Versorgung von Kindern aller Altersstufen notwendig sind. Andererseits ist der potenzielle Markt für ein Arzneimittel für eine bestimmte Altersstufe klein, was den Aufwand für den pharmazeutischen Unternehmer häufig zu hoch erscheinen lässt. Daher sind die Marktkräfte allein nicht in der Lage, adäquate Forschungsarbeiten zur Entwicklung, klinischen Prüfung und Zulassung von Kinderarzneimitteln anzuregen.
EU-Verordnung in der Diskussion
Seit 29. September 2004 liegt der Europäischen Kommission beim Europäischen Parlament ein Vorschlag für eine Verordnung über Kinderarzneimittel vor (6). Diese wird ein Meilenstein auf dem Weg zu einer besseren Arzneimittelversorgung von Kindern sein, denn nur durch Änderung und Verbesserung der Rahmenbedingungen können wesentliche Fortschritte erzielt werden.
Zweck der Verordnung ist es, die Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder zu intensivieren und sicherzustellen, dass die eingesetzten Arzneimittel im Rahmen qualitativ hochwertiger und ethisch ausgerichteter Forschungsarbeiten entwickelt und eigens für die pädiatrische Verwendung zugelassen werden. Außerdem sollen Informationen über die Verwendung von Medikamenten bei den verschiedenen pädiatrischen Bevölkerungsgruppen vertieft werden. Diese Ziele sollen verwirklicht werden, ohne Kinder unnötigen klinischen Prüfungen zu unterziehen und ohne die Zulassung eines Arzneimittels für andere Bevölkerungsgruppen zu verzögern. Es hat sich erwiesen, dass dazu ein System mit Verpflichtungen, aber auch mit Boni und Anreizen erforderlich ist.
Pädiatrieausschuss in der EMEA
Im Mittelpunkt der EU-Verordnung steht ein Pädiatrieausschuss, der innerhalb der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) eingerichtet wird. In diesem Ausschuss sollen Sachverstand und Kompetenz in Bezug auf die Entwicklung von Kinderarzneimitteln und die Beurteilung all ihrer Aspekte gebündelt werden. Seine Aufgabe ist in erster Linie die Beurteilung von pädiatrischen Prüfkonzepten und Anträgen auf Frei- und Zurückstellungen.
Eine weitere wichtige Aufgabe des Ausschusses ist es, eine Liste zum Therapiebedarf bei Kindern zu erstellen und regelmäßig zu aktualisieren. Darin sollen auch die derzeit an Kinder verabreichten Arzneimittel und deren therapeutische Bedürfnisse genannt sowie die Prioritäten für Forschung und Entwicklung herausgestellt werden.
Der Pädiatrieausschuss wird 31 Mitglieder haben: 25 Vertreter der Mitgliedsländer, von denen fünf auch Mitglieder des Ausschusses für Humanarzneimittel sind, sowie sechs Vertreter der Kinderärzte und Patientenverbände. Die pharmazeutische Industrie ist nicht vertreten. Es ist aber vorgeschrieben, dass einige Mitglieder auch Sachverstand hinsichtlich der pharmazeutischen Entwicklung und der pädiatrischen Pharmazie mitbringen.
Das pädiatrische Prüfkonzept ist das Dokument, auf das sich die Studien an Kindern stützen, und muss vom Pädiatrieausschuss gebilligt werden. Es enthält Einzelheiten zum Zeitplan und zu den Maßnahmen, durch die Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit des Arzneimittels in allen gegebenenfalls betroffenen Untergruppen der pädiatrischen Bevölkerung nachgewiesen werden sollen. Darüber hinaus werden alle Maßnahmen beschrieben, wie die Formulierung eines Arzneimittels angepasst werden soll, damit seine Verwendung in verschiedenen pädiatrischen Untergruppen annehmbarer, einfacher, unbedenklicher und wirksamer wird.
Forschung wird belohnt
In der EU-Verordnung werden drei Gruppen von Arzneimitteln unterschieden:
In Zukunft sollen neue Humanarzneimittel nur dann zugelassen werden, wenn der pharmazeutische Unternehmer Ergebnisse von Studien nach einem gebilligten pädiatrischen Prüfkonzept vorlegt. Für geschützte Arzneimittel (zweite Gruppe) gelten dieselben Anforderungen, wenn der Hersteller neue Indikationen, Darreichungsformen oder Applikationswege beansprucht. Damit wird die Forschung zu Kinderarzneimitteln in die Entwicklung von Medikamenten verpflichtend integriert.
Allerdings gibt es auch Ausnahmen, so genannte Freistellungen. Hersteller und Zulassungsbehörde können auf ein pädiatrisches Prüfkonzept für spezifische Arzneimittel oder Arzneimittelgruppen verzichten, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt,
Dadurch soll Forschung an Kindern ausschließlich zur Deckung ihres Therapiebedarfs betrieben werden. Der Pädiatrieausschuss wird Verzeichnisse zur Freistellung von Arzneimitteln oder Arzneimittelgruppen aufstellen.
Weiterhin kann der pharmazeutische Unternehmer eine Rückstellung beantragen. Dies bedeutet, dass er die gesamten Untersuchungen zum pädiatrischen Einsatz oder einzelne Maßnahmen noch nicht beginnt oder abschließt. Eine Rückstellung wird auf jeden Fall gewährt, wenn Studien an Erwachsenen vor Einleitung der Studien an Kindern angezeigt sind oder wenn diese länger dauern als Studien an Erwachsenen. Zu den Anträgen auf Frei- oder Rückstellung gibt der Pädiatrieausschuss sein Votum ab.
Ergänzendes Schutzzertifikat In der medizinischen Forschung bieten Patente nur unzureichenden Schutz. Daher kann ein pharmazeutischer Unternehmer einen ergänzenden Schutz beantragen, der sich unmittelbar an den Ablauf eines Patents für das Arzneimittel anschließt. Durch Kombination von Patent und ergänzendem Schutzzertifikat kann insgesamt höchstens 15 Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Zulassung des betreffenden Arzneimittels erreicht werden. Die Laufzeit des Zertifikats beträgt normalerweise höchstens fünf Jahre.
Als Anreiz erhält der Inhaber des Patents oder des ergänzenden Schutzzertifikats für neue oder geschützte Arzneimittel eine sechsmonatige Verlängerung des Zeitraums für das ergänzende Schutzzertifikat. Das gilt auch, wenn die Studien nach dem pädiatrischen Prüfkonzept nicht zur Zulassung einer pädiatrischen Indikation führen, die Ergebnisse jedoch in der Zusammenfassung der Produktmerkmale und gegebenenfalls in der Packungsbeilage angeführt werden. Der Bonus wird also für die Durchführung von pädiatrischen Studien gewährt und nicht für den Nachweis, dass ein Arzneimittel bei Kindern unbedenklich und wirksam ist.
Zulassung extra für Kinder
Für im Handel befindliche und nicht mehr geschützte Arzneimittel wird als neuer Rechtsstatus die Zulassung für die pädiatrische Verwendung eingeführt. Sie gilt für bekannte Arzneimittel, die zur ausschließlichen Verabreichung an Kinder weiterentwickelt werden. Die Neuentwicklung soll ausschließlich therapeutische Indikationen abdecken, die für Kinder oder einzelne Altersgruppen von Bedeutung sind, wobei Stärke, Darreichungsform und Applikationsweg adäquat sein müssen. Die eingereichten Daten können aus der veröffentlichten Fachliteratur, neuen Studien oder Verweisen auf Dossiers von bereits zugelassenen Arzneimitteln stammen.
Solche Arzneimittel, die nach einem pädiatrischen Prüfkonzept untersucht wurden und mit einer pädiatrischen Indikation zugelassen sind, werden künftig auf Anhieb erkennbar sein: Ein hochgestellter blauer Buchstabe »P« innerhalb eines ebenfalls blauen sternförmigen Umrisses zeichnet sie aus. In Verbindung mit der neuen Zulassung kommt der pharmazeutische Unternehmer in den Genuss der Datenausschließlichkeitsfrist.
Die neue Regelung soll einen zusätzlichen Anreiz für kleinere und mittlere Unternehmen einschließlich Unternehmen, die Generika herstellen bieten, patentfreie Arzneimittel für Kinder weiterzuentwickeln.
Datenbank als Infoquelle
Ein weiteres Ziel der EU-Verordnung ist die Sammlung und Bereitstellung von Informationen über die Verabreichung von Arzneimitteln an Kinder. Zugleich gilt es, Wiederholungen pädiatrischer Studien, die nicht zum kollektiven pädiatrischen Wissen beitragen, zu vermeiden. Daher wird eine Datenbank Informationen über alle in der Gemeinschaft und in Drittstaaten laufenden, frühzeitig abgebrochenen und abgeschlossenen pädiatrischen Studien beinhalten.
Auf europäischer Ebene soll zudem ein Netzwerk für klinische Studien aufgebaut werden, das die Zusammenarbeit erleichtern und die doppelte Durchführung von Studien verhindern soll. Zugleich wird es der Industrie als Quelle der Information und des Fachwissens dienen.
Als weiteren Anreiz für Sponsoren zur Entwicklung von Kinderarzneimitteln sollte die EMEA eine gebührenfreie Beratung bereitstellen. So sieht es jedenfalls die geplante EU-Verordnung vor.
Pädiatrische Expertengruppe
Die geplante Verordnung kann frühestens Ende 2006 in Kraft treten. Quasi als Sofortmaßnahme arbeitet seit 2001 eine pädiatrische Expertengruppe (PEG) bei der EMEA. Sie besteht aus 13 Experten, die wichtige Bereiche wie Pädiatrie, Pharmakokinetik, pharmazeutische Formulierung, Neonatologie oder Nephrologie repräsentieren.
Die PEG koordiniert die Aktivitäten und berät die EMEA hinsichtlich der Entwicklung und des Gebrauchs von Kinderarzneimitteln. Sie identifiziert Gebiete, auf denen Leitlinien vorbereitet werden, die bei der Entwicklung von Kinderarzneimitteln wichtig sind. Dies sind beispielsweise:
Zu ihren Aufgaben gehört ferner die Erfassung des Bedarfs an Kinderarzneimitteln, die Organisation von und Teilnahme an Veranstaltungen, die Beteiligung an der Gesetzgebung und Kontakte zu anderen Interessierten. Die PEG stellt also hinsichtlich ihrer Aufgaben, aber nicht vom rechtlichen Rahmen her, einen Vorläufer für den Pädiatrieausschuss der kommenden Gesetzgebung dar.
Arzneiformen der Wahl für Kinder
Der Autor ist beteiligt an einer Ad-hoc-Untergruppe der PEG zum Thema »Arzneiformen der Wahl für den Gebrauch bei Kindern«. Mitglieder sind jeweils zwei Vertreter aus Behörde, Hochschule und Industrie. Die Untergruppe hat eine Stellungnahme erarbeitet, die am 23. Juni 2005 von der EMEA veröffentlicht wurde (7). Dieses »reflection paper« soll den gegenwärtigen Stand der Diskussion wiedergeben und zu Kommentaren anregen (bis zum 31. Dezember 2005), stellt aber noch keine wissenschaftliche, technische oder regulatorische Leitlinie dar. Nach der Diskussion mit der Öffentlichkeit, insbesondere der pharmazeutischen Industrie, sollen daraus möglicherweise Leitlinien für die Industrie abgeleitet werden.
»Reflection paper« In ihrem Diskussionspapier greift die Ad-hoc-Arbeitsgruppe der PEG eine Fülle von Themen unter dem Aspekt der direkten Relevanz für Kinder auf. Die Kapitel umfassen:
Außerdem gibt es zwei Anhänge zu »Risiken bei der Manipulation von Arzneiformen für Erwachsene zur Anwendung bei Kindern« und »Methoden zur Bewertung des Geschmacks eines Arzneimittels«. In diesem Titelbeitrag werden nur ausgewählte Informationen dargestellt. Das gesamte Dokument ist im Netz verfügbar: www.emea.eu.int/pdfs/human/peg/19481005en.pdf
Die Entwicklung von Arzneiformen für Kinder, besonders für sehr junge Kinder, ist eine Herausforderung für jeden pharmazeutischen Wissenschaftler. Bislang ist das Wissen über die Akzeptanz unterschiedlicher Arzneiformen, verabreichbare Volumina, akzeptable Größen, Geschmack und besonders über Akzeptanz und Sicherheit von Hilfsstoffen je nach Alter und Entwicklungsstand des Kindes sehr begrenzt. Viele Arzneimittel sind derzeit nicht in Formulierungen verfügbar, die für Kinder geeignet sind. Als Ausweg bleibt dann nur die Eigenherstellung eines Kinderarzneimittels durch Veränderung einer Arzneiform, die für Erwachsene zugelassen ist. So werden beispielsweise Tropfen oder Salben weiterverdünnt, Kapseln geöffnet und entleert oder Tabletten zerrieben.
Arzneiformen für Kinder müssen zahlreiche Anforderungen erfüllen. So soll eine Bandbreite von zugelassenen Arzneiformen, die eine sichere, präzise Verabreichung der Dosis erlauben, zur Verfügung stehen, denn dies verbessert die Compliance bei minimaler Beeinträchtigung des Lebensstils. Ferner sollen ausschließlich Hilfsstoffe enthalten sein, die sicher und effektiv für das jeweilige Lebensalter sind. Wenn eine kommerzielle Arzneiform nicht verfügbar ist, sollen andere Darreichungsformen sicher und wirksam an die Bedürfnisse der Kinder angepasst werden können.
Arzneiformen für Peroralia
Verschiedene Faktoren können die Verabreichung von Medikamenten in den einzelnen Lebensaltern beeinflussen. Dazu gehören Unterschiede in der Fähigkeit von Kindern, mit Arzneiformen umzugehen, die Erkrankung, Annehmlichkeiten für Eltern oder Pfleger, Tagesablauf in der Schule, Pubertät, Behinderung oder kulturelle Unterschiede. Dazu einige Beispiele.
Kinder verweigern die wiederholte Applikation von Arzneimitteln, wenn dies unbequem, schmerzhaft oder stressig ist. Akute Übelkeit kann eine rektale oder parenterale Applikation erfordern. Andererseits wird die rektale Gabe von Arzneimitteln mitunter als nicht populär (regionale Unterschiede: wenig populär in Großbritannien!) empfunden und ist in Notfallsituationen schwierig. Schulkinder befinden sich typischerweise unter Aufsicht von Lehrern. Wenn keine hinreichend lang wirksamen Arzneiformen zur Verfügung stehen, kann eine angemessene Arzneiform die Gabe während der Schulzeit erleichtern oder überflüssig machen. In der Pubertät können bislang eingenommene Arzneiformen abgelehnt werden. Jugendliche wollen zunehmend selbst die Verantwortung für die Arzneitherapie übernehmen. Kleine, tragbare Arzneiformen und Applikationssysteme werden zunehmend bedeutsam.
Einen großen Einfluss haben die Applikationswege. Bei der peroralen Applikation sind sowohl flüssige wie feste Arzneiformen besonders bedeutend. Dabei ist ein akzeptabler Geschmack entscheidend für die Compliance der kleinen Patienten. Flüssige Arzneiformen eignen sich vor allem für Kinder bis zu acht Jahren. Wichtig ist das Volumen pro Dosis. Bei Kindern unter fünf Jahren sollte es kleiner als 5 ml sein, bei älteren Kindern weniger als 10 ml. Je wohlschmeckender die Zubereitung ist, desto größere Volumina werden toleriert.
Für die Praxis ist es wichtig, dass die Hersteller Informationen über geeignete Flüssigkeiten zur Verdünnung von Tropfen geben, um eine angemessene Stabilität sicherzustellen und den Geschmack zu optimieren. Die Volumina zur Verdünnung sollten möglichst klein sein, um das Risiko einer unvollständigen Dosierung zu minimieren.
Moderne Arzneiformen können die Anwendung bei Kindern erleichtern. Hierzu gehören beispielsweise orodispersible Arzneiformen wie Schmelztabletten, lyophilisierte Oblaten und dünne Filme, die nach Auflegen auf die Zunge zerfallen und/oder sich auflösen (»schmelzen«). Diese Arzneiformen sind für Kinder viel versprechend, weil sie einfach zu verabreichen sind, keine zusätzliche Flüssigkeit benötigen und bei hinreichend schnellem Zerfall nicht wieder ausgespuckt werden können. Bisher sind jedoch nur wenige Produkte auf dem Markt, zum Beispiel Zyrtec® ZapTabs oder Zofran® Zydis® lingual. Auch bei den orodispersiblen Arzneiformen ist ein guter Geschmack wichtig für die Akzeptanz.
Kautabletten bieten ebenfalls eine wertvolle Arzneiform für Kinder ab zwei Jahren (Beispiel: Singulair® mini). Sie werden als sicher für kleine Kinder angesehen, wenn das Kauen beaufsichtigt und somit ein Ansaugen oder Inhalieren verhindert wird. Kautabletten sollten gleichmäßig und schnell zerfallen. Idealerweise kann die Formulierung nicht kariogene Süßungsmittel enthalten.
Auswahl je nach Alter
Es gibt nur wenige Studien zum Einsatz unterschiedlicher Arzneiformen bei Kindern. Indirekte Hinweise kann man aus der Analyse des Verschreibungsverhaltens der Ärzte ziehen (8). Umstritten ist, ab welchem Alter Kinder in der Lage sind, konventionelle Tabletten oder Kapseln sicher zu schlucken.
Daher hat die Arbeitsgruppe ein Schema entwickelt, mit dem die Eignung einer Arzneiform für unterschiedliche Altersstufen erfasst werden kann. Die Altersklassen sind nach der ICH-Richtlinie eingeteilt, wobei die Kinder von zwei bis elf Jahren weiter in Vorschul- und Schulkinder aufgegliedert wurden. Die überwiegend konventionellen Arzneiformen sind nach Applikationswegen unterteilt. Einige spezielle Arzneiformen für Kinder, zum Beispiel der neu entwickelte Strohhalm mit arzneistoffhaltigen Pellets, wurden nicht aufgenommen. Das leere Schema, das nicht auf einschlägigen Richtlinien oder einer evidenzbasierten Studie beruht, wurde etwa 40 Personen vorgelegt. In einigen Fällen streute die Bewertung der Arzneiformen stark.
Die Tabelle 2 zeigt eine Zusammenfassung und Vereinfachung der ursprünglichen Matrix. Für die frühen Altersstufen (links in der Tabelle) wird hauptsächlich die Applizierbarkeit der jeweiligen Arzneiform mit Ziffern von 1 bis 5 bewertet. Für die späteren Altersstufen (rechts) sind alle Arzneiformen prinzipiell applizierbar; daher wird hier die Vorliebe wichtiger.
Tabelle 2: Bewertung von Applizierbarkeit und Akzeptanz von Arzneiformen in den kindlichen Altersklassen
Route1: nicht applizierbar oder nicht akzeptiert / 2: applizierbar mit Problemen oder akzeptiert mit Vorbehalten / 3: möglicherweise applizierbar, aber nicht bevorzugt oder akzeptiert / 4: gut applizierbar oder bevorzugt / 5: beste und bevorzugte Applizierbarkeit oder Arzneiform der Wahl
Das Schema zeigt grundsätzlich die bevorzugten Applikationswege und Arzneiformen in Abhängigkeit vom Alter, kann aber nur eine grobe Orientierung geben. Selbstverständlich empfinden und verhalten sich Kinder (auch im selben Alter) unterschiedlich und können mit Arzneiformen unterschiedlich umgehen. Die Akzeptanz bestimmter Arzneiformen hängt zudem von der Stimmung und Erkrankung der Kinder, dem Einfluss der Eltern und Pfleger, kulturellen und/oder regionalen Besonderheiten ab. Auch innerhalb einer Arzneiform kann die Akzeptanz auf Grund der Eigenschaften von Arzneistoff (Dosierung, Geschmack) und Formulierung stark variieren. Wenn beispielsweise eine Suspension einen bitter schmeckenden Stoff enthält, hängt sie wesentlich von Konzept und Ausführung der Geschmacksmaskierung ab. Daher ist eine generelle Beurteilung der Applizierbarkeit und Bevorzugung einer Arzneiform nicht immer anwendbar für alle Kinder einer Altersgruppe und für alle Formulierungen einer Arzneiform.
Kindgerechte Hilfsstoffe
Zur Auswahl von Hilfsstoffen gibt die Arbeitsgruppe basierend auf verfügbarer Literatur kinderspezifische Informationen zu Konservierungs-, Süßungs-, Füll- und Lösungsmitteln, Farbstoffen sowie Überzugsmaterialien. Bei den Geschmacksstoffen gibt es neben allgemein gültigen Empfindungen ausgeprägte regionale Unterschiede.
Benzylalkohol kann bei Neugeborenen auf Grund des unreifen Metabolismus toxisch sein und sollte in Arzneimitteln für kleine Kinder möglichst vermieden werden. Saccharose ist bei Kindern mit Diabetes zu vermeiden. Auf Grund der kariogenen Eigenschaften sollten bei Langzeitanwendungen hohe Anteile an Saccharose ersetzt werden durch zuckerfreie Formulierungen. Andere Hinweise betreffen Fructose, Sorbitol, Xylitol und Aspartam.
Ethanol ist ein gebräuchliches Lösemittel in oralen, flüssigen Arzneiformen. Es gibt jedoch ernsthafte Vorbehalte gegen seinen Einsatz in Arzneimitteln für Kinder. Akute Intoxikationen durch Überdosierung sowie die chronische Toxizität bei dauerhaftem Gebrauch sind bedenklich. Die gleichzeitige Gabe von Ethanol kann möglicherweise Arzneistoffabsorption und -metabolismus beeinflussen und Interaktionen verursachen. Blutkonzentrationen zwischen 1 und 100 mg/100 ml führen zu Nebenwirkungen im Zentralnervensystem. Tödliche Dosen für Kinder ergeben sich ab etwa 3 g/kg. Forschungsbasierte klinische Parameter zur Festlegung von Grenzwerten für die sichere oder akzeptable Einnahme von Ethanol fehlen allerdings noch.
Detailwissen für die Praxis
Die meisten Apotheker und viele Eltern schwer kranker Kinder kennen die Situation: Die Manipulation von Arzneimitteln für Erwachsene bietet den einzigen Ausweg, wenn Arzneiformen für Kinder fehlen, aber dringend benötigt werden. Beispielsweise gibt es von Mercaptopurin keine kindgerechten Arzneiformen; daher müssen Eltern oder pharmazeutisches Personal Tabletten für Erwachsene teilen (2).
Die Manipulation ist in vielen Fällen unvermeidbar und notwendig, aber es stehen oft nur unzureichende Informationen zur Verfügung. Andererseits verfügt der Hersteller, der das Arzneimittel für Erwachsene entwickelt hat, über spezifische technische Informationen. Daher will die Arbeitsgruppe die pharmazeutischen Unternehmer ermutigen, möglichst viele relevante Informationen verfügbar zu machen. Im Detail geht es um:
Die Bereitstellung solcher Informationen ist wünschenswert, aber dazu wird es eine intensive Diskussion geben. Falls die Informationen in der Packungsbeilage oder der Fachinformation veröffentlicht werden, stellt sich die Frage nach der Haftung und Verantwortung. Dies könnte zudem zu einer zusätzlichen Prüfung durch die Zulassungsbehörden führen.
Ausblick
In letzter Zeit wurden die Lücken bei der Arzneimittelversorgung der Kinder häufig beklagt. Doch inzwischen gibt es Initiativen zur Verbesserung der Situation. Die Erfolge werden sich nicht schlagartig einstellen, sind aber mittel- bis langfristig gesehen wahrscheinlicher geworden. Die Apothekerinnen und Apotheker sind aufgerufen, dieses Thema aufmerksam zu verfolgen und sensibel gegenüber der Problematik zu bleiben.
Literatur
Der Autor
Peter Kleinebudde studierte Pharmazie in Regensburg und Hamburg, erhielt 1983 die Approbation und wurde 1987 promoviert. Nach mehrjähriger Tätigkeit in der pharmazeutischen Industrie habilitierte er sich 1997. Von 1998 bis 2003 war Kleinebudde als Professor für Arzneiformenlehre an der Universität Halle-Wittenberg und wirkte dort unter anderem als Prodekan und Dekan des Fachbereichs Pharmazie. Seit 2004 ist er Professor für Pharmazeutische Technologie an der Universität Düsseldorf. Kleinebudde ist Mitglied der American Association of Pharmaceutical Scientists (AAPS), der Arbeitsgemeinschaft Pharmazeutischer Verfahrenstechnik (APV) und weiterer wissenschaftlicher Fachgesellschaften und Expertengruppen. Seit 2002 steht er der APV als Präsident vor, 2004 wurde er zum AAPS-Fellow gewählt.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Peter Kleinebudde
Heinrich-Heine-Universität
Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie
Universitätsstraße 1
40225 Düsseldorf
kleinebudde@uni-duesseldorf.de
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