Noelle-Neumann: Wir brauchen mehr subjektive Entscheidungsfreiheit |
19.05.1997 00:00 Uhr |
Titel
Tragen die Krankenkassen möglicherweise eine
Mitschuld an der Versichertenmentalität, weil sie in den
fetten Jahren ihren Mitgliedern vermittelt haben, daß
sie für alles sorgen und alles bezahlen werden?
Stichworte: High-tech-Medizin für jedermann, Massagen
nach Gusto, gesundheitserhaltende Kuren als vorbeugende
Maßnahmen und vieles andere mehr.
Noelle-Neumann: Teile der Krankenversicherung
sind sicherlich von vorne herein ein Konstruktionsfehler.
Wir Deutschen glauben, daß die Form der Abrechnung der
Ärzte über die GKV die einzige richtige Lösung ist.
Das muß nicht so sein. Die Franzosen muten ihrer
Bevölkerung zu, die Rechnungen der Ärzte zu prüfen und
selber einzureichen. Wie können wir denn erwarten, daß
eine Bevölkerung Verantwortung übernimmt, wenn wir ihr
allzu viel abnehmen?
Heute haben wir die Situation, daß der einzelne wieder
zu sich selbst, seiner Selbständigkeit, seiner
Selbstverantwortung, zurückfinden will. Für mich wäre
es ein entscheidender Schritt, wenn dieser Prozeß wieder
ein ganz großes Gewicht bekäme.
Wir müssen uns vorstellen, daß dieses Jahrhundert die
Gesellschaft sozusagen durch den Wolf gedreht hat. Und
das macht Menschen ängstlich, unsicher und läßt sie
übrigens auch ihr Selbstbewußtsein verlieren. Aus
Ängstlichkeit nimmt ihre Risikobereitschaft rapide ab.
Die Sozialforscher haben die Erschöpfungszeichen der
Gesellschaft erkannt. Also: je mehr wir uns darüber klar
sind, desto eher können wir hoffen, daß die Gesundheit
dazu beiträgt, daß unsere Gesellschaft die notwendigen
Veränderungen vollzieht.
Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie
zufolge ist der größte Teil der Bevölkerung so
entmündigt, daß er nicht weiß, wie hoch sein
Krankenkassenbeitrag ist. Die Bevölkerung hat sich an
die Entlastung durch die geltenden Regelungen gewöhnt:
Keine Vergleiche anstellen zu müssen, keine Rechnungen
prüfen zu müssen, weitgehend befreit zu sein von
Schreibarbeit - an diesem System hängt die Bevölkerung.
Die Mehrheit, nämlich 70 Prozent, fühlt sich im Schutze
des Krankenscheins wohl und will ihn beibehalten. Das
haben Sie 1992 festgestellt, also zur Zeit der
Diskussionen über das Gesundheitsstrukturgesetz, das
dann 1993 in Kraft getreten ist. Glauben Sie, daß sich
in den vergangenen fünf Jahren an dieser Einstellung
etwas geändert hat?
Noelle-Neumann: Ich habe eher den Eindruck, daß
viel mehr Menschen als man bisher weiß, spüren, daß
etwas falsch läuft und daß man sich umorientieren muß.
Das, was wir 1992 fanden, ist nicht in derselben Richtung
weitergetrottet. Wir haben viele Anhaltspunkte, daß die
Bevölkerung ansprechbarer ist als man aus dem
öffentlichen Klima entnehmen kann. Sie besinnt sich auf
die eigene Verantwortung, die eigenen Möglichkeiten und
die eigene Selbständigkeit.
Das eigentliche, geheimnisvolle Stichwort ist
Selbständigkeit. Denn Selbständigkeit ist auch das
Schlüsselwort der freien Gesellschaft. In Diktaturen
erscheint es überhaupt nicht. Diktaturen verbreiten eine
Atmosphäre der Geborgenheit. Der Staat sorgt für alles.
Allerdings muß der Bürger alles tun, was der Staat
diktiert. Das macht die Menschen schwach. Deshalb hoffe
ich, daß das Wort Freiheit wieder öfter gebraucht wird.
Auch der Bundespräsident hat in seiner Berliner Rede von
Freiheit im Sinne von Entscheidungsfreiheit gesprochen.
Jetzt mache ich einen großen Sprung. Wir wissen
inzwischen - und das hängt mit meinem großen nächsten
Thema, der Glücksforschung zusammen - daß
Entscheidungsfreiheit die Kräfte wachsen läßt. Wir
wissen inzwischen ganz genau, daß eine Aktivierung
dieser Art den Menschen glücklich macht und daß sich
das direkt auf die Gesundheit auswirkt. Und ich bin ganz
optimistisch, daß die Menschen das wittern, bevor es
ihnen gesagt wird.
Ich möchte dazu ein Beispiel geben. Wir machten 1972
eine Untersuchung, bei der die Menschen gefragt wurden
"wieviel Freiheit haben Sie am Arbeitsplatz?".
Wir meinten Entscheidungsfreiheit, nicht die Freiheit
frühstücken zu gehen, wann sie Lust haben. Wir wollten
nicht glauben, was uns zunächst gesagt wurde, daß
Freiheit am Arbeitsplatz nur etwas für die höheren
Chargen ist. Deshalb haben wir Arbeiter, Angestellte und
Leitende befragt.
Wir konnten zeigen, daß Arbeiter, die eine subjektive
Entscheidungsfreiheit am Arbeitsplatz haben, viel
gesünder sind. Wir haben gefragt: "Fühlen Sie sich
morgens frisch und munter?" Diejenigen, die das
bejahen, sagen gleichzeitig, sie hätten viel
Entscheidungsfreiheit. An dem wichtigen Thema Gesundheit
sehen wir am deutlichsten, daß der zentrale Wert der
Demokratie, die Entscheidungsfreiheit, in der Tat auch zu
mehr Glück führt. Denn wer wüßte nicht, daß
Gesundheit und Glück zusammenhängt.
Wir haben auch nach den Krankheitstagen gefragt. Hier gab
es große Unterschiede zwischen den Arbeitern, die das
Gefühl haben, daß sie viel Entscheidungsfreiheit haben,
und denen, die kaum Entscheidungsfreiheit haben. Was es
volkswirtschaftlich ausmacht, wenn man hier die richtigen
Auffassungen wieder durchsetzt, brauche ich wohl nicht
näher zu erläutern. Wir können also mit den geeigneten
Mitteln daran arbeiten, daß die hohen Krankenstände,
die ein wirtschaftlicher Standortnachteil sind,
zurückgehen. Freiheit und Entscheidungsfreiheit sind die
Schlüsselwerte.
Wir haben auch gefragt: "Wann haben Sie zum letzten
Mal lauthals gelacht?" Das klingt erst einmal nicht
ernst. Aber Lachen ist ein Indikator für Freiheit. Die
Arbeiter mit großem subjektivem Freiheitsgefühl haben
doppelt so oft "gestern zum letzten mal lauthals
gelacht" als diejenigen, die wenig Freiheitsgefühl
haben.
Ich sehe, daß die gesetzliche Krankenversicherung ein
System mit ganz wenigen eingebauten Vorkehrungen für ein
subjektives Freiheitsgefühl ist.
Wie könnte diese mangelnde Entscheidungsfreiheit
belebt oder das fehlende Verantwortungsgefühl gestärkt
werden?
Noelle-Neumann: Zum Beispiel durch
Strukturveränderungen. Man muß an dem System selbst
arbeiten. Wir müssen zwar den schwachen Menschen
schützen, aber sehr viele Menschen sind -
glücklicherweise - nicht schwach und werden trotzdem
geschützt, was sie dann in der Tat erst recht schwach
macht.
Glauben Sie, daß es eine soziale Kontrolle im
Gesundheitswesen gibt, die all' jene im Auge hätte, die
das System ausnutzen oder mißbrauchen?
Noelle-Neumann: Ich war von Umfrageergebnissen
beeindruckt, wonach etablierte Normen besser in Takt sind
als viele glauben. Wir haben bei der Befragung eine Reihe
von Normen vorgelegt und gefragt, "was darf man tun
und was unter keinen Umständen?" - wie etwa
Schwarzfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Ergebnis: Alles, was zum Beispiel Versicherungsbetrug
betrifft, ist mit einer Norm belegt. Der einzelne weiß,
daß das kein Kavaliersdelikt ist. Insofern sollte die
gesetzliche Krankenversicherung Vorkehrungen treffen,
nach denen sich der einzelne richtig verhalten kann und
dann auch belohnt wird.
Ich warte förmlich darauf, daß einmal ein Gesetz
verabschiedet wird, das ausdrücklich das Ziel hat, den
Raum der subjektiven Entscheidungsfreiheit zu
vergrößern. Ich höre bei allen Begründungen von neuen
Gesetzen und Novellen immer nur, "das schafft mehr
Gleichheit". Mit Gleichheit kommen wir aber nicht
weiter. Wir müssen ehrlicherweise bekennen, daß die
Menschen vor dem Gesetz gleich sein sollen, aber in ihrem
Wesen, in der Realität sehr ungleich sind. Wir müssen
den einzelnen durch seine Erziehung stärken. Denn je
stärker ein Mensch gemacht wird, desto besser kann er
mit schwierigen Aufgaben, die Selbständigkeit verlangen,
fertig werden.
Aber man darf sich nicht darauf verlassen, daß alle
unsere Normen noch in Takt wären. Sie sind gefährdet
und bauen sich ab. Der Erosionsprozeß, von dem auch der
Bundespräsident spricht, kann meiner Meinung nach nur
durch die Stärkung der Entscheidungsfreiheit aufgefangen
werden. Aufrufe und Appelle nützen dabei wenig,
geeigneter sind Belohnungen. Diejenigen, die ihre
subjektive Freiheit am Arbeitsplatz empfinden - und das
sind nicht nur die Chefs - , könnten mit noch mehr
Freiheit belohnt werden. So sollten unsere gesetzlichen
Krankenversicherungen ihre Mitglieder auch mit Freiheiten
belohnen.
Die demographische Entwicklung wird gerne als
Erklärung für die finanzielle Krise im Gesundheitswesen
angeführt. Gleichzeitig weiß man schon länger um die
Zahlen und könnte meinen, daß man sich deshalb auch
hätte rechtzeitig auf die Veränderungen einstellen
können.
Noelle-Neumann: Unsere Gesellschaft ist nicht
auf Vorausdenken eingerichtet, und sie belohnt es auch
nicht. Wir leben in einer Zeit großer Veränderungen,
die erst verarbeitet werden müssen. Denken sie an
Margaret Thatcher. Sie hat ungeheure Schwierigkeiten
während ihrer Regierungszeit durchstanden, um die Macht
der Gewerkschaften zu durchbrechen, die in England zu
einer regelrechten englischen Krankheit geführt hat. Sie
hat es geschafft. Aber eigentlich dankt ihr niemand, daß
England jetzt in einem unglaublich guten Zustand ist:
aktiver, selbstverantwortlicher , mit geringer
Arbeitslosigkeit.
Unsere Gesellschaft hält Menschen, die vorausdenken,
für Spinner. Ich beneide die Politiker nicht, die sich
unablässig mit Dingen auseinandersetzen müssen, die
ihnen negativ ausgelegt werden. Eine Gesellschaft muß
sich aber auch in dem Sinne solidarisch fühlen, daß sie
bereit ist, Opfer zu bringen. Die unrentablen
Arbeitsplätze im Bergbau hätten ganz rasch abgebaut
werden müssen. Statt dessen haben die protestierenden
Bergarbeiter ihre Forderung nach Erhalt der
Arbeitsplätze durchgesetzt. Der Effekt ist, daß
augenblicklich Milliarden ausgegeben werden, die nicht in
die Zukunft, sondern nur in die Vergangenheit gehen. Ich
bin überzeugt, daß wir noch bittere Lehren in Bezug auf
die Verlegung von Arbeitsplätzen ins Ausland erfahren
werden. Für Politiker wird das ein harter Weg.
Der Mensch, so sagen Sie, beobachtet über seine
soziale Haut unablässig die Verteilung der Meinungen in
seiner Umwelt. In der Regel äußere er eigene Meinungen
nur dann laut, wenn er damit bei den meisten auf
Zustimmung zu stoßen hofft. Das trifft für
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer nun nicht zu. Er
tritt für unpopuläre Reformmaßnahmen ein, hat immer
wieder andere Gruppen im Gesundheitswesen gegen sich und
demonstriert unverdrossen, daß er ein dickes Fell hat.
Ist das der Stoff, aus dem Politiker sein müssen?
Noelle-Neumann: Ja. Und eigentlich will auch die
Bevölkerung Politiker aus diesem Stoff. Ich bin sehr
beeindruckt von den Politkern, die ihren Kurs so
konsequent gehalten haben wie Erhard und Adenauer. Sie
brauchten ein unglaubliches Stehvermögen, gerade als mit
einem Mal ihre Popularitätskurven der Demoskopie in den
Keller gefallen sind. Nach ihrem Tod hat ihre
Popularität enorm zugenommen. Das Bild von Adenauer und
Erhard verklärte sich geradezu. Politiker wissen aber,
daß sie selten auf Applaus schwimmen. Wer das denkt, ist
fehl am Platz und sollte einen anderen Beruf wählen.
Es gibt noch einen anderen Aspekt. Wer denkt, die
Demoskopie könnte die Politiker verführen, das zu tun,
was der Mehrheitswunsch ist, erliegt einem Irrtum. Ein
Politiker will etwas bewirken, und seine Überzeugungen
laufen oft dem entgegen, was die Bevölkerung oder die
Medien für richtig halten. Da ist Demoskopie nützlich,
weil sie zeigen kann, wo die härtesten Widerstände
bestehen. Und gegen die darf man nicht frontal anlaufen -
höchstens weit weg von den nächsten Wahlen. Die
Demoskopie kann zeigen, wo Mißverständnisse oder
Hindernisse liegen, die dann wiederum beseitigt werden
können, um das politische Ziel zu erreichen. Demoskopie
ist nicht das probate Mittel, um einem Politiker zu
sagen, was er tun soll - das wäre absurd, aber sie ist
ein wunderbares Mittel, um Konsensus anzusteuern. Es hat
sich gezeigt, daß viele - nicht alle - Politiker, die
ihren Kurs halten, belohnt werden. Oft schon wenige Jahre
später.
Die Gesundheitsreform sucht einen Weg aus der
finanziellen Krise der GKV. Welche Belastungen in Form
höherer Versicherungsbeiträge, höherer Zuzahlungen
oder einer Selbstbeteiligung würde Ihrer Meinung nach
die Bevölkerung noch mittragen?
Noelle-Neumann: Wahrscheinlich muß man noch
viel mehr als bisher nachdenken, was man dem einzelnen
auferlegen kann - in der Richtung, die Seehofer schon
eingeschlagen hat. Solche Maßnahmen sind nicht nur
bitter, sondern auch hilfreich. Ich bin überzeugt, daß
die Zumutungen in Bezug auf die Gesundheit die Menschen
sogar stärken können. Wenn sich der Mensch genau
überlegen muß, was er will, was er braucht, wo er sich
diszipliniert, in dem was er ißt, trinkt und tut, ist
schon viel gewonnen. Alle Tugenden wie auch
Pünktlichkeit und Sparsamkeit haben eines gemeinsam, sie
trainieren die Selbstbeherrschung. Man sollte sich also
auch in Bezug auf die Gesundheitsreform immer fragen: was
macht die Menschen selbständiger. Das ist das Ziel, das
wir anstreben sollten.
Für Sie ist die Freiheit - und zwar nicht die
Freiheit von sozialer Not, sondern die Freiheit im Sinne
von Verantwortung für das eigene Schicksal,
Entscheidungsfreiheit, Bereitschaft zum Risiko, zur
Härte, zum intensiven Arbeiten - ein
renaissancewürdiger Wert. Gilt das nach wie vor?
Noelle-Neumann: Der erfolgreiche Lebensweg
läuft nur über ein selbstverständliches, unablässiges
Trainieren der Selbstbeherrschung, die andere Kräfte
wachsen läßt.
Verweichlicht die Gesellschaft in diesem Punkt?
Noelle-Neumann: Augenblicklich gibt es
zahlreiche Auffassungen in der Bevölkerung zu der Frage:
Wie führe ich ein schönes Leben. Wir stellen fest, daß
die wenigsten daran denken, was sie selbst eigentlich
dazu beitragen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Menschen
haben ein falsches Bild, das sich auch in ihrer Sprache
widerspiegelt. Sie sagen zum Beispiel: Ich brauche einen
Kurzurlaub, um aufzutanken. Ich frage mich dann, ob das
geeignet ist, um die Kräfte zu stärken oder ob es
einfach nur schön ist. Aber so etwas kann man nur sagen,
wenn man viele demoskopische Erkenntnisse gewonnen hat.
Das fließt dann auch in die Glücksforschung ein, an der
ich seit 25 Jahre arbeite, und die Thema meines nächsten
Buches sein wird.
Generell ist zu beobachten, daß es in unserer Zeit eine
große Bereitschaft gibt, sein Herz ergreifen zu lassen.
Sowohl in Form von Mildtätigkeit und Mitgefühl als auch
in Form von Gewaltbereitschaft.
In unserer Kultur hat sich durchgesetzt, daß man den
Starken eher für schlecht und den Schwachen eher für
gut hält. Das glauben bei uns zwei Drittel der
Bevölkerung. Das Gegenteil aber ist der Fall. In England
ist es genau umgekehrt. Die Engländer sagen zu zwei
Drittel, der starke Mensch ist eher gut und der schwache
Mensch ist eher böse. Dort glaubt man, der schwache
Mensch sei wegen seiner Schwäche und dem Unvermögen,
anderen zu helfen, eher schlecht. Der schwache Mensch
erliegt der Versuchung, sich ganz und gar mit sich selber
zu beschäftigen, was die englische Gesellschaft
entsprechend verurteilt. Ich habe allerdings keine
Erklärung dafür, warum die Engländer das wissen und
die Deutschen nicht.
Wir haben zum Beispiel ein Instrument, die
Persönlichkeitsstärke zu messen. Wenn wir die starken
und die schwachen Menschen vergleichen, was sie in ihrer
Freizeit getan haben, dann haben die Starken viel mehr
für andere getan als die Schwachen. Das verwundert
nicht, weil sie schließlich auch mehr Kräfte haben.
Deshalb muß man auch im Gesundheitswesen immer darauf
insistieren, das zu tun, was den Menschen stärker werden
läßt. Deshalb bin ich der Meinung, man sollte nicht
denjenigen, die für die Gesellschaft etwas leisten, den
Orden neiden.
Franzosen und Engländer pflegen ein Belohnungssystem -
die einen mit Orden, die anderen mit Titeln -, das den
Deutschen fremd ist. Wir verweigern dem Starken und
Tüchtigen die Anerkennung, wobei ich einräume, daß
sich eine Gesellschaft, die im Laufe eines Jahrhunderts
dreimal umgekrempelt worden ist, schwer tut, Werte zu
belohnen.
Versprechen Sie sich von mehr Prävention zum
Beispiel in den Bereichen Ernährung, Rauchen und
Alkohol, die schon bei der jungen Generation frühzeitig
einsetzen müßte, etwas?
Noelle-Neumann: Ja, entscheidendes. Prävention
darf natürlich nicht grenzenlos sein. Interessanterweise
haben die meisten Menschen ein Gefühl dafür, wodurch
sie gefährdet sind. Sie haben eine Nase für Gefahren,
nur müssen sie sie auch gebrauchen anstatt sich zum
Beispiel durch Informationsüberschwemmung für solche
Gefühle unempfindlich zu machen.
Das ist auch ein Thema der Glücksforschung, die das
Alleinsein als Chance des Wachsamwerdens und
Sensibelwerdens begreift. Jeder muß in sich hineinhören
und herausfinden, in welcher Weise er für sich vorbeugen
muß. Es kann sein, daß jemand frühzeitig anfängt,
Gymnastik zu betreiben, um damit orthopädischen Schäden
vorzubeugen. Ein anderer meidet gewisse Nahrungsmittel,
weil er intuitiv weiß, daß sie ihm nicht bekommen -
obwohl noch kein Nachweis einer Unverträglichkeit
vorliegt.
Kann Erfolg oder Mißerfolg in der
Gesundheitspolitik und den derzeitigen Reformbestrebungen
das Wählerverhalten beeinflussen?
Noelle-Neumann: Ja, und zwar indirekt und
subkutan. Eine Gesellschaft, die durch eine gute
Gesundheitspolitik mehr auf sich zurückgeworfen und
somit verantwortlicher gemacht wird, könnte sich auch
politisch sehr gut der freiheitlichen, demokratischen
Grundhaltung zuwenden.
PZ-Interview von Gisela Stieve, Allensbach
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