Titel
Auf den ersten Blick scheint das Thema Harninkontinenz für die
Apotheke wenig attraktiv. Sperrige Frachten nehmen wertvollen Platz in der
Apotheke weg, der Markt ist alles andere als überschaubar, die Gebinde
sind ungewohnt, die Marktpraktiken fremd, Verhandlungen mit
Krankenkassen und Reklamationen von Ärzten oder Patienten bei
Versorgungsengpässen oder Fehlanwendungen bleiben nicht aus. Zudem
verlangt der Patient nach besonderer Zuwendung und Einfühlungsvermögen.
Auf den zweiten Blick läßt sich aber nicht leugnen, daß der hier noch
ruhende Markt immens ist.
Inkontinenz ist eine Erkrankung, die durch die zunehmende Lebenserwartung der
Bevölkerung eine neue Dimension annimmt. In der Altersstufe der 65- bis
79jährigen leiden elf Prozent und von den über 80jährigen dreißig Prozent der
Senioren an Blasenschwäche, gibt eine Broschüre der Gesellschaft für
Inkontinenzhilfe (GIH) Auskunft. Schätzungsweise werden in Deutschland über vier
Millionen Patienten wegen Harn- und/oder Stuhlinkontinenz betreut; die Dunkelziffer
ist wahrscheinlich noch mal so groß. Bereits heute belastet die ambulante
Versorgung Inkontinenter die Gesetzliche Krankenversicherung mit mehr als zwei
Milliarden DM, für die Versorgung in Pflegeheimen fällt noch einmal der gleiche
Betrag an. Jede zweite Aufnahme in ein Pflegeheim erfolgt wegen Inkontinenz.
Der Apotheker ist oft der erste, der von der Blasenschwäche erfährt. Diese
Möglichkeit sollte er nutzen. Er sollte dafür sorgen, daß der Betroffene sein intimes
Problem mit einem Arzt bespricht. Den meisten ist nämlich erschreckenderweise
nicht bekannt, daß Blasenschwäche eine Krankheit ist, die man behandeln kann.
Der Laie stuft sein Problem oft als altersbedingt ein; wegen des Irrglaubens "da kann
man nichts machen" frißt er Scham und Angst still in sich hinein, damit bloß keiner
etwas bemerkt. Dabei kann der Urologe abklären, um welche Art von
Harninkontinenz es sich handelt. Nach der Diagnose richtet sich die Therapie. Viele
Betroffene können erfolgreich therapiert werden, so daß ihr Leiden geheilt oder
doch zumindest erheblich gebessert wird und sie am gesellschaftlichen Leben wieder
teilnehmen können (soziale Kontinenz). Je früher eine Therapie eingeleitet wird,
umso besser sind die Heilungschancen.
Ein Symptom, viele Ursachen
Hinter dem Symptom, Urin nicht halten zu können, verbirgt sich eine ganze Reihe
von Ursachen. Zum einen kann das Kontinenzorgan selbst geschädigt sein, oder der
Urinverlust ist die Folge einer geschwächten Beckenbodenmuskulatur. Bei einer
Beckenbodeninsuffizienz ist die Blase selbst völlig intakt, aber der Widerstand des
Verschlußsystems ist herabgesetzt. Eine Beckenbodeninsuffizienz ist eine
Ermüdungserscheinung, wie sie nach vielen Geburten (hinsichtlich der Gefahr einer
Harninkontinenz ist ein Kaiserschnitt vorteilhaft, da der Geburtskanal nicht belastet
wird), durch schwere körperliche Arbeit oder Adipositas, verstärkt durch einen
Estrogenmangel in der Postmenopause, auftreten kann. Beckenbodeninsuffizienz ist
die häufigste Form von Harninkontinenz. Zum anderen intervenieren neurologische
Störungen die Blasenentleerung.
Das ABC der medikamentösen Möglichkeiten
Harninkontinenz kann nicht einfach durch eine Tabletteneinnahme behoben werden.
Eine alleinige medikamentöse Therapie ist zwar in manchen Fällen erfolgreich,
zumeist kommen Medikamente, wenn überhaupt, aber nur in Ergänzung zu
physikalischen Maßnahmen wie Toilettentraining, Beckenbodengymnastik oder im
Vorfeld einer Operation zum Einsatz. Generell gilt, daß die Urologika zu unspezifisch
wirken, als daß eine selektive pharmakologische Intervention erreicht werden
könnte. Abgesehen von den Nebenwirkungen der meisten Urologika kommt es
gerade bei einer Multimedikation bei älteren Menschen häufig zu Interaktionen.
Die Hauptindikation für die Pharmakotherapie stellt die Dranginkontinenz dar
(Anticholinergika, muskulotrope Spasmolytika, trizyklische Antidepressiva). Ferner
sind Arzneimittel bei leichten Formen der Streßinkontinenz (Estrogene,
a-Sympathomimetika) oder bei Patientinnen mit eingeschränkter Operationsfähigkeit
indiziert. Bei allen anderen Inkontinenzformen stehen operative Eingriffe,
physikalische Maßnahmen und die Linderung der Symptome durch Hilfsmittel im
Vordergrund.
Die Möglichkeiten in der Selbstmedikation sind begrenzt. Der Apotheker kann
Phytotherapeutika nur in ganz leichten Fällen einer irritierten Blase, der Reizblase der
Frau, empfehlen, damit sich der Detrusor entspannt. Aber auch hier sollte der
Verweis auf den Arzt im Beratungsgespräch nicht fehlen. In Frage kommen
Parasympatholytika, die aus Solanaceen (Gesamtalkaloide aus Radix Belladonna
und Scopoliacarniolica) gewonnen werden. Desweiteren sind Kürbiskernextrakte
ein beliebter Selbstmedikationstip, um die Blase zu stärken.
Die Wirkung ist zwar aus der Erfahrungsheilkunde und der Volksmedizin sowie aus
verschiedenen spärlich dokumentierten Anwendungsbeobachtungen bekannt, so daß
man Kürbissamenextrakt als traditionell anzuwendendes Arzneimittel gemäß § 109a
AMG einstufen kann. Saubere klinische Studien mit dem Zielparameter "Stärkung
der Blasenfunktion" fehlen jedoch. Die Inhaltsstoffe des Kürbissamens machen eine
Stärkung der Blasenfunktion plausibel, so der relativ hohe Gehalt an ß- und
y-Tocopherol (30 bis 45 mg/100g) sowie 46 bis 50 Prozent fettes Öl mit über 54
Prozent Linolsäure. Beide Naturstoffklassen können die Funktion der
Blasenmuskulatur verbessern. Der Haken: Für Kürbissamen ist das bisher
wissenschaftlich noch nicht nachgewiesen. Andere relevante Inhaltsstoffe, wie die
d-7-Sterole in freier und glykosidischer Form, die 25 verschiedenen Aminosäuren
und Selen in Mengen zwischen 0,08 und 0,4 µg/g dürften eher die prostatrope
Wirksamkeit des medizinischen Kürbisssamens hervorrufen.
Die Kontinenz trainieren - physikalische Behandlung
Blasentraining, Toilettentraining, Beckenbodentraining: Das sind keine Synonyme,
sondern drei verschiedene Übungsprogramme, die zum Komplex Kontinenztraining
zählen. Ständige Trainingseinheiten helfen, die Blasenfunktion zu rehabilitieren und
die willentliche Kontrolle wiederzuerlangen. Der Vorteil der Übungsprogramme: Der
Patient wirkt aktiv an der Überwindung seiner Inkontinenz mit. Manchen
Betroffenen gelingt es jedoch nicht, ihre Beckenbodenmuskulatur zu fühlen. Da
leisten Konen, elektrische Reize oder Elektroden, die ein optisches oder akustisches
Signal (Biofeedback) übermitteln, gute Dienste. Alle drei Maßnahmen beruhen auf
dem gleichen Prinzip: Der Betroffene erhält eine Kontrolle, ob er wirklich die richtige
Muskelgruppe trainiert.
Nur das richtige Hilfsmittel hilft, den Leidensdruck zu senken
Die meisten Betroffenen wissen nicht, wie viele moderne Hilfsmittel es heute für ihr
Leiden gibt. Nehmen Sie sich viel Zeit, um mit Sensibilität, Einfühlungsvermögen,
Geduld und Verständnis das geeignete Hilfsmittel in der richtigen Größe
herauszufinden. Geben Sie Hilfsmittel zum ausprobieren mit. Bei Ihrem Rat sollten
Sie berücksichtigen, daß die Selbständigkeit und Mobilität des Betroffenen erhalten
bleibt. Sie sollten auch den körperlichen und geistigen Zustand des Betroffenen
beachten. So ist ein alter Mensch, der schlecht sieht, mit einem Kondomurinal
wahrscheinlich überfordert, während er eine Windelhose selbst wechseln könnte.
Man unterteilt die Hilfsmittel in drei große Gruppen auf:
- aufsaugende Hilfsmittel
- ableitende Hilfsmittel
- mechanische oder instrumentelle Hilfsmittel
PZ -Titelbeitrag von Elke Wolf, Oberursel


© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de