Titel
Die kombinatorische Chemie erobert die Laboratorien der
Arzneimittelforschung. Das Prinzip ist von der Natur abgeschaut und
revolutioniert die hundertjährige Vorgehensweise bei der Suche nach
Arzneistoffen. Mit Hilfe der kombinatorischen Chemie erzeugen inzwischen
Hochleistungsroboter im Mikromaßstab bis zu 1000 strukturell verwandte
Substanzen an einem Tag.
Gruppen ähnlich aufgebauter Synthesebausteine werden bei der kombinatorischen
Chemie in einem Ansatz simultan umgesetzt. Die Reaktion von zehn verschiedenen
Synthesebausteinen mit zehn anderen liefert so gleichzeitig 100 Produkte. Reagieren
diese Produkte nun wiederholt mit weiteren Gruppen von Molekülbausteinen,
entsteht eine riesige Anzahl verschiedener Verbindungen - eine große molekulare
Bibliothek, die anschließend auf ihre biologische Wirksamkeit getestet werden kann.
Das kombinatorische Syntheseverfahren soll die Suche nach neuen Leitstrukturen
und die Verbesserung vorhandener Molekülgerüste beschleunigen, die
Entwicklungszeit eines neuen Arzneimittels verkürzen und so zur Senkung der
Kosten beitragen.
Mitte der achtziger Jahre kam das Prinzip der Kombination erstmals bei der
Synthese kurzer Peptide zur Anwendung. In etlichen Ansätzen kombinierte Mario
Geysen in Kalifornien gleichzeitig verschiedene Aminosäuren und erhielt in kurzer
Zeit eine Peptidbibliothek mit Dutzenden von unterschiedlich zusammengesetzten
Peptiden. Peptidbibliotheken stellen zwar nach wie vor ein wichtiges Hilfsmittel zur
Klärung biologischer Fragestellungen dar, die deutsche Pharmaindustrie setzt das
neue Verfahren aber vorwiegend für die Synthese kleiner organischer Verbindungen
ein. Von den riesigen Molekülbibliotheken mit zehntausenden verschiedenen
Verbindungen geht der Trend heute zu kleineren Bibliotheken, die schneller
charakterisiert werden können.
Mittlerweile gelangen die ersten mit Hilfe der kombinatorischen Chemie entwickelten
Arzneistoffe in die klinische Prüfung. In diesem Jahr werden das erste Mal
Krebspatienten in Deutschland mit einem Cyclopeptid behandelt, das aus einer
Peptidbibliothek stammt und die tumorinduzierte Angiogenese hemmt.
Die neue Technik wird auch bei der Suche nach Wirkstoffen aus Nukleinsäuren
angewendet. Katalytisch aktive Ribonukleinsäuren, sogenannte Ribozyme, befinden
sich in den USA zur Therapie von HIV-Infektionen in klinischen Tests. Biochemiker
isolierten neue kleine Nukleinsäuremoleküle, sogenannte Aptamere, aus
kombinatorischen Syntheseansätzen. Aptamere binden bestimmte Proteine sowie
niedermolekulare Verbindungen sehr spezifisch und könnten zu wertvollen
Hilfsmitteln in der Diagnostik weiterentwickelt werden.
Während in den USA immer mehr kleine Firmen die neue Technik zur Entwicklung
neuartig strukturierter Therapeutika und Diagnostika einsetzen, bildet zur Zeit noch
die Verbesserung der Syntheseverfahren und -maschinen den Schwerpunkt der
großen deutschen Arzneimittelhersteller. Die kombinatorischen Syntheseansätze
sollen auch die Entwicklung neuer Duftstoffe und Pflanzenschutzmittel beschleunigen.
Eine Umfrage bescheinigt der robotergesteuerten Chemie schon heute "das Potential
einer Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts".
PZ-Titelbeitrag von Angela Haese, Berlin


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