Tilidin-Verordnungen bei Jugendlichen extrem stark gestiegen |
Daniela Hüttemann |
03.09.2020 17:00 Uhr |
Ein Anstieg um den Faktor 30 stieg das Verordnungsvolumen innerhalb von zwei Jahren bei den 15- bis 20-Jährigen an. Alles deutet auf einen erhöhten Missbrauch hin. / Foto: Getty Images/MirageC
STRG_F bezieht sich dabei auf Verordnungsdaten der Gesetzlichen Krankenversicherung. Demnach seien 2017 den 15- bis 20-Jährigen rund 100.000 definierte Tagesdosen Tilidin ärztlich verordnet worden. 2019 seien es dann mehr als drei Millionen gewesen – ein Anstieg um das 30-fache, der sich medizinisch nicht erklären lässt. Auffällig sei zudem, dass es in den Altersgruppen bis zu 40 Jahren deutlich weniger Verschreibungen gab. Das hält auch der Bremer Pharmazeut Professor Dr. Gerd Glaeske für auffällig, den das Reportage-Magazin als Experten dazu befragt hat.
Und es gibt eine weitere Besonderheit, die auf einen Missbrauch hinweist: Drei Viertel der drei Millionen Tagesdosen Tilidin wurden männlichen Patienten verordnet. Glaeske kommentiert dazu, dass insbesondere Jungen beziehungsweise junge Männer dieser Altersklasse »sehr risikofreudig mit der Anwendung oder dem Probieren von Substanzen« seien. Medienberichten zufolge spiele das Opioid bereits seit einigen Jahren eine Rolle in manchen Gruppen, insbesondere der Deutsch-Rap-Szene. Im Juni veröffentlichten beispielsweise Capital Bra und Samra einen Song mit dem Titel »Tilidin« – bislang mehr als 65-Millionen-mal angesehen. Los geht der Refrain mit »Gib mir Tilidin, ja ich könnte was gebrauchen«. Missbräuchlich wird es wohl wegen seiner euphorisierenden und angstlösenden Wirkung eingesetzt.
STRG_F berichtet von Gesprächen mit Dealern, die eine erhöhte Nachfrage nach Tilidin bestätigten, auch von Minderjährigen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erklärte gegenüber dem Reportage-Magazin, es nehme die vorgelegten Zahlen sehr ernst. Die Bundesopiumstelle soll sich nun mit der Thematik befassen und bei »entsprechender Datenlagen« auch der Sachverständigenausschuss für Betäubungsmittel. Dabei geht es um Tilidin in Tablettenform.
Tilidin (Valoron® und Generika) ist als Medikament als Lösung oder Retardtabletten erhältlich. Während flüssige und damit schnellfreisetzende Tilidin-Präparate bereits 2013 als Betäubungsmittel eingestuft wurden und mittlerweile laut STRG_F nur noch 4 Prozent der verordneten Dosen umfassen, fallen die Retardtabletten bislang nicht unter das BtM-Gesetz. Zugelassen ist Tilidin zur Behandlung starker und sehr starker Schmerzen und kommt normalerweise nach schweren Operationen oder bei Krebs zum Einsatz.
Glaeske, der damals Mitglied des entsprechenden Sachverständigenausschusses war, spricht sich dafür aus, erneut zu prüfen, auch die Retardtabletten als BtM einzustufen. Denn offenbar wissen viele Jugendliche, wie sie die Tabletten aufbereiten müssen, um die Retardierung zu umgehen, um den gewünschten Kick zu erzielen. Die Präparate enthalten neben Tilidin auch den Opioid-Antagonisten Naloxon. Pro 50 mg Tilidin sind 4 mg Naloxon enthalten, um die Wirkung zu antagonisieren, ohne den analgetischen Effekt zu beeinträchtigen.
Naloxon wird nach oraler Gabe in der Leber schnell inaktiviert, während Tilidin als Prodrug in seine eigentliche Wirkform Nortilidin umgewandelt wird und die gewünschte analgetische Wirksamkeit entfaltet. Werden Naloxon-haltige Präparate parenteral verabreicht, setzt die antagonisierende Wirkung des Naloxons ein. So soll eine missbräuchliche Applikation verhindert werden. In Kombination mit Beruhigungsmitteln oder Alkohol ist ein Atemstillstand möglich.