Therapiekontrolle für mehr Lebensqualität |
Ein gutes selbstbestimmtes Leben trotz schwerer Krankheit – das will die Palliativversorgung ermöglichen. / © Adobe Stock/pressmaster
Sinn und Zweck einer Arzneimitteltherapie ist die Heilung von Krankheiten oder die Linderung von Symptomen. Der Fokus der palliativmedizinischen Versorgung liegt auf der Linderung belastender Symptome und Verbesserung der Lebensqualität. Die medikamentöse Therapie spielt dabei eine zentrale Rolle, birgt jedoch auch Risiken. Dies erfordert eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und potenziellen Risiken.
Dies gilt insbesondere für vulnerable Patientengruppen, zu denen auch Palliativpatienten gehören. Diese können an einer nicht heilbaren Tumorerkrankung, aber auch an weit fortgeschrittenen internistischen oder neurologischen Erkrankungen mit begrenzter Lebenserwartung leiden. Es sind Patienten in allen Altersgruppen, häufig in höherem Lebensalter, und multimorbide mit vielfältigen Leiden und Symptomen. Zusätzlich leiden sie meist an Organinsuffizienzen. Häufige Beschwerden sind Schmerzen, Atemnot, Übelkeit, Angst oder Unruhe.
Um eine wirksame und sichere Therapie zu gewährleisten, ist das individuelle Monitoring der Arzneimitteltherapie ein wichtiger Schritt im Behandlungsprozess. So kann die Therapie bestmöglich auf den Patienten abgestimmt und bei fehlender Wirksamkeit oder belastenden Nebenwirkungen – unter Berücksichtigung der individuellen Situation – angepasst werden. Allerdings ist ein Therapiemonitoring im palliativen Kontext mit besonderen Herausforderungen verbunden. Dieser Artikel beleuchtet die Strategien und Werkzeuge und zeigt, wie das pharmazeutische Fachpersonal diesen Prozess unterstützen kann.
Verschiedene Faktoren spielen bei der Therapieplanung und -überwachung im palliativen Kontext eine entscheidende Rolle. Neben medizinischen Aspekten sind dies vor allem die Bedürfnisse und Wünsche der Patienten sowie die Möglichkeiten im individuellen Versorgungsumfeld (Kasten).
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Die Palliativversorgung stellt die Lebensqualität der Patienten und ihrer Angehörigen in das Zentrum aller Bemühungen. Die Symptomlinderung ist ein Hauptziel der Behandlung unter Berücksichtigung physischer, psychosozialer und spiritueller Dimensionen. Ein weiterer Aspekt der palliativmedizinischen Versorgung ist die individuelle Behandlung der Patienten – dies beinhaltet sowohl die Versorgungsart als auch den Ort.
So unterscheidet man zwischen einer allgemeinen und einer spezialisierten Palliativversorgung. Die allgemeine, kurz AAPV, wird insbesondere durch Hospizvereine, Haus- und Fachärzte sowie ambulante Pflegedienste getragen. Die spezialisierte Palliativversorgung findet im stationären Setting auf Palliativstationen und in Hospizen statt, im ambulanten Bereich spielen SAPV-Teams (spezialisierte ambulante Palliativversorgung) eine große Rolle. Hier werden Patienten in ihrem Zuhause versorgt: zu Hause, in stationären Einrichtungen der Altenhilfe, in speziellen Wohnformen wie Demenz- oder Beatmungs-WG sowie in Einrichtungen der Behindertenhilfe.
Ein wesentliches Prinzip der spezialisierten Versorgung ist der multiprofessionelle und interdisziplinäre Ansatz. Palliativteams bestehen in der Regel aus speziell ausgebildeten Ärzten, Pflegekräften, Sozialpädagogen, Seelsorgern, Therapeuten und Apothekern. Dadurch wird man den körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen der Patienten und Angehörigen in der letzten Lebensphase bestmöglich gerecht.
Palliativpatienten erhalten in der Regel mehrere, nicht selten bis zu 15 verschiedene Präparate (1). Knapp die Hälfte der Medikamente wird außerhalb ihrer Zulassung, im sogenannten Off-Label-Use, eingesetzt (2). Dies erhöht das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) zusätzlich (3). Darüber hinaus nehmen Patienten oftmals auf eigene Initiative frei verkäufliche Präparate, Phytotherapeutika und Nahrungsergänzungsmittel ein.
Mit der Anzahl der Medikamente steigt das Risiko für schwerwiegende UAW (4, 5). Durch Organinsuffizienzen wie eingeschränkte Leber- oder Nierenfunktion verändern sich zudem die Metabolisierung und Eliminierung. Mögliche Konsequenzen sind eine verminderte, fehlende oder verstärkte Wirkung, eine damit einhergehende Verschlechterung des Zustands sowie unnötige Krankenhauseinweisungen.
Ein hilfreiches Tool zur Einschätzung der Symptomlast im palliativen Kontext ist der sogenannte IPOS (Integrated Palliative Care Outcome Scale). Dieses Tool zur Erfassung der Belastungen und Probleme von Patienten bildet die aktuellen und jeweiligen Bedürfnisse ab. Dabei geht es nicht darum, wie stark Symptome oder Probleme ausgeprägt sind, sondern wie belastend sie für die Patienten sind. So gibt der Patient auf einer Skala von »gar nicht« bis »extrem stark« an, inwiefern ihn Symptome wie Schmerzen, Atemnot, Schwäche, Übelkeit oder Mundtrockenheit belasten (25, 26).
Auf diese Weise können klare Therapieziele festgelegt, die Auswirkungen von Interventionen festgestellt und der Therapieverlauf dargestellt werden. Zusätzlich ist eine Priorisierung stärker belastender Symptome möglich.
Ziel des Therapiemonitorings ist es, durch kontinuierliche Überwachung und Anpassung der medikamentösen Therapie die Patienten bestmöglich zu behandeln, belastende Symptome zufriedenstellend zu lindern und so die Lebensqualität zu verbessern.
Neu auftretende Symptome sollten immer auf einen möglichen Zusammenhang mit der Medikation überprüft werden, bevor weitere Medikamente angesetzt werden. Dabei sind UAW auf ein Minimum zu reduzieren, Indikationen einzelner Medikamente zu hinterfragen und komplizierte Einnahmeschemata zu vermeiden.
Eine gute Kommunikation zwischen den Versorgenden ist entscheidend, um Doppelverordnungen oder Verschreibungskaskaden zu verhindern, wie im Fallbeispiel am Ende des Artikels erläutert wird. Ebenso müssen Wünsche und Bedürfnisse der Patienten einbezogen werden, um ihre Autonomie zu erhalten. Öffentliche Apotheken übernehmen eine wichtige Rolle sowohl für Patienten und Angehörige als auch für die Versorgenden. Zudem sind Apotheken bei neuen belastenden Symptomen und deren Behandlung oft die ersten Ansprechpartner.
Ein Schwerpunkt des Therapiemonitorings gilt dem Management von Neben- und Wechselwirkungen. In der Palliativsituation ist die Abgrenzung zwischen Krankheitsfortschritt und Arzneimittelnebenwirkungen besonders herausfordernd. Dies birgt die Gefahr für Verschreibungskaskaden, also der Behandlung von UAW mit einem weiteren Medikament (10).
Symptome wie Übelkeit, Unruhe oder Obstipation können sowohl krankheitsbedingt als auch medikamenteninduziert sein. Beispielhaft sind in Tabelle 1 mögliche Ursachen für Übelkeit aufgeführt.
Ursachen | Beispiele |
---|---|
Medikamente | Antibiotika, Antikonvulsiva, Antirheumatika, Levodopa, Opioide, Zytostatika |
gastrointestinal | Ulkus, Gastroparese, Reflux, Darmobstruktion, gastrointestinale Infektionen |
metabolisch | Hypoglykämie, Hyperkalzämie, Leberversagen, Ketoazidose |
zentral | Hirntumore und -metastasen, Hirnblutung, Meningoenzephalitis, Migräne |
psychologisch | Angst, Depression, Stress, Ekel, antizipatorisch |
sonstige | Herzinsuffizienz, Strahlentherapie, paraneoplastisch*, Nierenkolik, Nahrungsmittel, Glaukom |
Ein weiteres Beispiel: Verhaltensänderungen wie Aggressivität, die durch Hirntumoren oder -metastasen verursacht sein können, treten als häufige Nebenwirkung von Levetiracetam auf, das seinerseits zur Behandlung epileptischer Anfälle aufgrund von Hirntumoren oder -metastasen eingesetzt wird. Dies verdeutlicht den schmalen Grat, den Behandelnde in der Abwägung von Risiken und Nebenwirkungen häufig gehen müssen.
Schwer kranke Menschen reagieren oft empfindlich auf Arzneimittel. Mitunter sind Nebenwirkungen aber auch hilfreich. / © Adobe Stock/CandyBox Images
Wirkstoffe mit anticholinerger Wirkung kommen beispielsweise zum Einsatz in der Parkinson-Therapie, zur Spasmolyse oder Sekretionshemmung. Häufige periphere Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit, Obstipation, Miktions- oder Sehstörungen sowie auf zentraler Ebene Erregung und Verwirrtheit bis hin zum Delir. Zur Einschätzung der anticholinergen Last, vor allem bei älteren Patienten, wurden verschiedene ACB-Scores (ACB: anticholinergic burden) entwickelt (11, 12). Diese sollen eine Orientierung bei der Auswahl und Kombination von Wirkstoffen bieten und helfen, die anticholinerge Last zu senken.
Insbesondere ein Delir ist kritisch. Neben anticholinergen und weiteren delirogenen Medikamenten wie Opioiden erhöhen auch Multimorbidität, sensorische Einschränkungen, Immobilität, Mangelernährung oder Dehydratation das Risiko für ein Delir. All diese Faktoren treffen häufig auf Palliativpatienten zu, sodass Inzidenzen von bis zu 88 Prozent beschrieben sind (13).
Symptome des Delirs sind unter anderem Bewusstseins-, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen sowie Schlafstörungen. Ein hyperaktives Delir fällt durch psychomotorische Unruhe auf. Ein hypoaktives Delir wird bei schwerkranken und bettlägerigen Patienten schnell übersehen und kann leicht mit einer Depression verwechselt werden.
Zittern kann ein Parkinson-Syndrom anzeigen, das auch medikamentös ausgelöst sein kann. / © Adobe Stock/Daniel Ernst
Es existiert ein Vorschlag zum systematischen Vorgehen zur Abklärung der Ursachen und möglicher Therapieoptionen (14). Bei guter Überwachung und schneller Reaktion ist nahezu die Hälfte der Delirien in der palliativen Situation reversibel.
In der Regel bilden sich Nebenwirkungen mit dem Absetzen von Medikamenten wieder zurück. In seltenen Fällen können diese jedoch bestehen bleiben, beispielsweise bei einem medikamentös induzierten Parkinson-Syndrom (DIP: drug-induced parkinsonism) (15). Häufige Auslöser sind Antipsychotika wie Haloperidol, Olanzapin und Risperidon sowie das Antiemetikum Metoclopramid. Typische Symptome entstehen durch die Blockade der Dopamin-Rezeptoren und zeigen sich vor allem als Rigor, Tremor und Akinese. Das Risiko steigt mit höherer Dosierung und Potenz sowie bei Langzeiteinnahme. Zunächst ist ein DIP reversibel, später jedoch auch irreversibel.
Nebenwirkungen können unter Umständen auch erwünscht sein. Teilweise kann die Anzahl der Medikamente durch das geschickte Ausnutzen von Nebenwirkungen und den gezielten Einsatz reduziert werden. Dies verbessert die Arzneimitteltherapiesicherheit und erleichtert die Einnahme für Patienten und Angehörige.
Genutzt wird beispielsweise die sedierende Wirkung von Antihistaminika, die antiemetische Wirkung von niedrig dosierten Antipsychotika oder die sekretionshemmende Wirkung von Anticholinergika.
Letzteres nutzt man beispielsweise zur Behandlung einer Sialorrhö (unkontrollierte Speichelsekretion) oder Pseudohypersalivation (Beeinträchtigung des Abschluckens und/oder unzureichende Speichelflusskontrolle). Bei Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS), fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung oder verschiedenen Kopf-Hals-Erkrankungen, bei denen die Speichelflusskontrolle und/oder das Abschlucken des Speichels beeinträchtigt sind, werden Anticholinergika wegen ihrer antisekretorischen Wirkung eingesetzt (16).
Die Evidenzlage zum Einsatz von Glycopyrronium ist im Vergleich zu anderen Anticholinergika deutlich günstiger. In der deutschen S2-Leitlinie »Hypersalivation« wird Glycopyrronium zur Sekretminderung empfohlen und auf den Off-Label-Einsatz bei Erwachsenen hingewiesen. Bei Kindern und Jugendlichen ist ein Fertigarzneimittel zugelassen.
Im Vergleich zu anderen Anticholinergika hat Glycopyrronium gering ausgeprägte zentralnervöse Nebenwirkungen und führt selten zu Sedierung und Delir. Zudem hat es geringere kardiale Nebenwirkungen.
Interaktionen zwischen zwei oder mehr Medikamenten können deren Wirkung je nach Mechanismus verstärken, abschwächen oder aufheben und beeinflussen somit die Wirksamkeit der Therapie. Ebenso können Wechselwirkungen, beispielsweise beim Mischen von parenteralen Zubereitungen, zu Inkompatibilitäten durch physikochemische Reaktionen führen. Auch Nahrungsmittel können relevante Interaktionen mit Medikamenten auslösen.
Nicht alle Interaktionen sind klinisch relevant. Gerade hier kommt der pharmazeutische Sachverstand bei der Einschätzung zum Tragen. So können manche Wechselwirkungen bereits durch einen zeitlichen Abstand bei der Einnahme umgangen werden. Zwei Beispiele: L-DOPA nicht zusammen mit eiweißreicher Nahrung einnehmen, da dies die Resorption beeinträchtigt, und L-Thyroxin 30 Minuten vor dem Frühstück auf nüchternen Magen schlucken, um eine Komplexbildung mit Nahrungsbestandteilen zu vermeiden.
In anderen Fällen muss das Risiko für die Dauer der Therapie abgewogen und gegebenenfalls auf Alternativen ausgewichen werden, zum Beispiel bei der Einnahme von NSAR und Antihypertensiva. Bei dieser Einschätzung sind immer auch die individuelle Situation und der aktuelle Zustand des Patienten zu berücksichtigen.
Eine Polypharmazie erhöht das Risiko für Arzneimittelinteraktionen. Relevante Interaktionen betreffen die Kombination mehrerer Dopamin-Antagonisten wie Metoclopramid und Haloperidol als Antiemetika und Antipsychotika, die zu extrapyramidalen Bewegungsstörungen führen können. Ebenso besteht die Gefahr für Herzrhythmusstörungen bei Einnahme mehrerer Arzneistoffe, die die QT-Zeit verlängern (Beispiele: Haloperidol, Amitriptylin, Dimenhydrinat).
Selten, aber potenziell lebensbedrohlich ist ein Serotonin-Syndrom. Auslösende Arzneistoffe sind unter anderem Tramadol, Mirtazapin, Ondansetron, Amitriptylin oder Citalopram. Wird das Syndrom rechtzeitig erkannt und die auslösende Therapie abgesetzt, bildet es sich in der Regel innerhalb von 24 Stunden zurück. Allerdings sind die Symptome in der leichten Ausprägung relativ unspezifisch, unter anderem Schwitzen, Fieber, Diarrhö, Agitation und Koordinationsstörungen, sodass diese erst bei einer Verschlechterung auffallen. Schätzungen zufolge bleiben 85 Prozent der Serotonin-Syndrome unerkannt.
Ein waches Auge auf die Medikation: Apotheker können Palliativpatienten und ihre Angehörigen mit einfühlsamer Beratung wirksam unterstützen. / © Getty Images/RapidEye
Zu beachten sind auch Interaktionen mit nicht rezeptpflichtigen Arzneimitteln wie Johanniskraut. Diese können durch Enzyminduktion von CYP3A4 die Metabolisierung von Opioiden wie Fentanyl, Oxycodon, Buprenorphin oder Tramadol beschleunigen. Es kommt zu einer unzureichenden Schmerzkontrolle, auf die mit einer Erhöhung der Dosis reagiert wird. Wird das Johanniskraut-Präparat abgesetzt, müsste die Opioid-Dosis wieder angepasst werden. Da sich eine Enzyminduktion jedoch nicht sofort auswirkt, sondern erst verzögert auftritt, wird der direkte Zusammenhang leicht übersehen.
Diese Beispiele zeigen, dass bei Auftreten neuer Symptome und bei Veränderung des Zustands immer auch die medikamentöse Therapie und deren Änderungen überprüft werden sollten.
Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl von Arzneimitteln ist die Organfunktion, insbesondere von Nieren und Leber. Diese Organe sind bei Palliativpatienten häufig bereits durch Alter, Vorerkrankungen oder Behandlungen geschädigt. Grundsätzlich sollten Arzneistoffe, die Leber und Niere weiter schädigen, möglichst vermieden werden. Dosierungen müssen abhängig von der Kreatinin-Clearance beziehungsweise vom Child-Pugh-Score angepasst werden (Tabelle 2).
Hilfestellungen für die Dosisberechnungen bieten verschiedene Webseiten, die im Kasten unten zusammengefasst sind. Ebenso gelistet sind Quellen zur Unterstützung beim Therapiemonitoring.
Bei einer Leberinsuffizienz ist die Unterscheidung zwischen Low- und High-Extraction-Drugs für die Dosisberechnung wichtig. Bei Letzteren erhöht sich aufgrund des fehlenden First-Pass-Effekts die Bioverfügbarkeit und deshalb sollte die Dosis zu Beginn reduziert werden. Dies trifft zum Beispiel auf Opioidanalgetika zu (Tabelle 2).
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Off-Label-Use von Arzneimitteln im palliativen Kontext:
Off-Label-Use in der Palliativmedizin mit konkreten Hinweisen zum Therapiemonitoring: https://pall-olu.de/
Potenziell inadäquate Medikamente (PIM) für ältere Patienten:
Priscus-Liste: www.priscus2-0.de/
FORTA (Fit fOR The Aged): https://forta.umm.uni-heidelberg.de/
Beers-Liste, Stand 2023 (22): DOI: 10.1111/jgs.18372
STOPPFrail (23): Liste mit Kriterien für potenziell inadäquate Medikamente für ältere Menschen mit limitierter Lebenserwartung, Stand 2019; DOI: 10.1007/s00228-019-02630-3
Anticholinerge Nebenwirkungen:
Anticholinergic Burden Calculator: www.acbcalc.com/
Dosierung bei Niereninsuffizienz:
https://dosing.de/
Hinweise bei Leberinsuffizienz:
www.drugsinlivercirrhosis.org; www.geneesmiddelenbijlevercirrose.nl/ (Informationen auf Niederländisch)
Deprescribing:
OncPal deprescribing guideline (24), Deprescribing-Guideline für Tumorpatienten: Website zur Entscheidungshilfe beim Deprescribing: https://medstopper.com/
Infusionstherapie in der Palliativmedizin:
mit Stabilitäten und Kompatibilitäten: www.pall-iv.de/
Insbesondere in der letzten Lebensspanne kann es sinnvoll sein, auf bestimmte Medikamente zu verzichten, zum Beispiel weil diese nicht mehr indiziert sind oder ein potenziell präventiver Effekt nicht in der noch zu erwartenden Lebenszeit liegt.
Beim Deprescribing werden Arzneimittel gezielt und unter Überwachung der Effekte abgesetzt oder reduziert. In der Literatur sind verschiedene Vorschläge zum Deprescribing bei Palliativpatienten beschrieben (9, 19–21). Demnach sollte eine Diuretika-Therapie beispielsweise bei reduzierter Flüssigkeitsaufnahme oder erhöhtem Flüssigkeitsverlust hinterfragt werden. Gleiches gilt für Lipidsenker zur Primärprävention einer Hypercholesterolämie, orale Antikoagulanzien bei sturzgefährdeten Patienten oder die Dauergabe von Protonenpumpeninhibitoren. Die Notwendigkeit und Dosierung von Antihypertensiva ist zu klären, da der Blutdruck mit fortschreitender Erkrankung in der Regel sinkt.
Das macht beide glücklich! / © Adobe Stock/photophonie
Jedoch sollte das Absetzen von Medikamenten immer gut mit Patienten und Angehörigen kommuniziert werden, damit keine zusätzlichen Ängste geschürt werden (20) oder der Eindruck eines »Aufgebens« entsteht.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen können gut und hilfreich sein, um die Arzneimitteltherapie zu vereinfachen und dennoch auf die Patienten einzugehen. So kann ein Handventilator möglicherweise Abhilfe bei Atemnot schaffen, Atem- und Entspannungsübungen bei Unruhe oder Schlafproblemen helfen oder ein Rollator die Mobilität verbessern.
Aus den Beispielen wird deutlich, dass sich Apotheker und das pharmazeutische Personal vielfältig im Therapiemonitoring einbringen können. Palliativpatienten benötigen eine intensive medizinische, pharmazeutische, psychologische und soziale Betreuung. Dazu gehört auch die persönliche und einfühlsame Beratung in der Apotheke.
Als pharmazeutische Dienstleistung können öffentliche Apotheken die erweiterte Medikationsberatung bei Polymedikation anbieten. Insbesondere bei Beteiligung mehrerer Versorgender können Apotheken als zentrale Anlaufstelle auf Doppelverordnungen, Interaktionen und mögliche Verschreibungskaskaden prüfen.
Weiterhin sollten die Diagnosen und Indikationen hinterfragt und gut dokumentiert werden, um unnötige oder ungeeignete Medikamente zu identifizieren und geeignete Alternativen anzubieten (Fallbeispiel siehe unten). Insbesondere beim zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln ist dies wichtig, da schnell Missverständnisse über Anwendung, Dosierungen oder die Dauer der Therapie entstehen können. Auch die Vereinfachung von Einnahmeschemata durch Reduktion der Zahl an Arzneimitteln oder sinnvolle Verteilung über den Tag kann Patienten enorm entlasten. Da sich der aktuelle Zustand der Patienten schnell verändern kann, sind eine regelmäßige Bewertung und Anpassung wichtig.
Apotheken können ihre pharmazeutische Expertise einbringen, indem sie Patienten und Angehörige zu ihren Medikamenten beraten und schulen. Dazu gehören sowohl die Schulung zur richtigen Einnahme und Anwendung, vor allem bei erklärungsbedürftigen Darreichungsformen, als auch die Aufklärung über potenzielle Neben- und Wechselwirkungen. Ebenso können sie medizinische und pflegerische Teams, die in die Versorgung von Palliativpatienten involviert sind, schulen und Fortbildungen zu konkreten Themen anbieten, beispielsweise zu Interaktionen und Nebenwirkungen, besonderen Applikationsarten oder zum Off-Label-Use.
Eine besondere Herausforderung stellt die Schnittstelle zwischen stationärem und ambulantem Sektor dar. Bei der Entlassung können Krankenhausapotheker die Medikation auf ihre Eignung prüfen. Meistens ist es notwendig, eine intravenöse Medikation auf andere Darreichungsformen oder Präparate umzustellen. Je nach Wirkstoff erfolgt die Applikation auf oralem, transdermalem, rektalem oder subkutanem Weg. Ist kein passendes Fertigarzneimittel verfügbar, können Empfehlungen zur individuellen Rezepturherstellung mitgegeben werden. Wichtig ist, dass die Einnahme für die Patienten praktikabel ist, um die Therapieadhärenz zu gewährleisten. Auch bei Lieferengpässen können vorausschauend Alternativen gewählt und Weiterversorgende dementsprechend informiert werden.
Apotheker können sehr viel dazu beitragen, Befinden und Lebensqualität von Palliativpatienten zu verbessern. Wie es gelingt, eine sehr komplexe Medikation gezielt zu vereinfachen, zeigt das folgende Beispiel. Entscheidend ist, dass es der Patientin – und idealerweise ihren An- und Zugehörigen – nützt.
Frau E. ist 91 Jahre alt und lebt zu Hause mit ihrem 96-jährigen Ehemann. Sie wird unterstützt durch eine 24-Stunden-Kraft und von einem ambulanten Pflegedienst versorgt. Die ärztliche Versorgung übernehmen ihre Hausärztin, ein Neurologe und ein Kardiologe.
Gut und selbstständig essen und trinken: Das ist enorm wichtig für die Lebensqualität – gerade wenn die Kräfte schwinden. / © Adobe Stock/antikarium
Die Patientin leidet an Morbus Parkinson, beginnender Parkinson-Demenz mit nächtlichen Unruhezuständen und paroxysmalem Vorhofflimmern. Bekannt sind eine eingeschränkte Nierenfunktion (GFR 48 ml/min), Hyperkaliämie (5 mmol/l), gGT 60 U/l, Natrium-Spiegel 130 mmol/L (leicht erniedrigt) und ein Body-Mass-Index von 17,5. Ihr Allgemeinzustand verschlechtert sich deutlich; sie leidet an starker Unruhe, unkontrollierten Angstzuständen und Panikattacken mit Weglauftendenz, Gangunsicherheit und häufigen Stürzen. Insbesondere die nächtliche Unruhe belastet die Pflegenden enorm.
Zur Vermeidung weiterer Krankenhausaufenthalte wird die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) eingeschaltet. Der aktuelle Medikationsplan enthält 18 verschiedene Medikamente (Tabelle 3).
Einige grundsätzliche Überlegungen: Sind alle Arzneimittel noch indiziert und aktuell noch notwendig? Ist die Handhabung der Inhalatoren für Frau E. klar und umsetzbar? Schafft sie das Teilen der Tabletten und die Handhabung der geteilten Tabletten? Gibt es Doppelverordnungen und wurden die Dosierungen angepasst an die Niereninsuffizienz?
Medikament | Stärke, Dosierung vorher | Stärke, Dosierung nachher | Indikation vorher/nachher |
---|---|---|---|
Acetylcystein | 600 mg, 1-0-0-0 | – | Schleim/– |
Spironolacton Tabl. | 25 mg, 1-1-1-0 | – | |
Berodual® N DA | bei Bedarf bis zu 3× tägl. | – | Lunge/– |
Bisoprolol FTA | 2,5 mg, 1-0-2-0 | 2,5 mg, 1-0-2-0 | Senkung der Herzfrequenz |
Bromazepam Tabl. | 6 mg, ¼ Tablette bei Bedarf (bis zu 3× täglich) | ¼ Tab mittags bei Bedarf | Beruhigung |
Dekristol® 20.000 I.E. | 1× pro Woche (montags) | 1× pro Woche (montags) | Vitamin-D-Substitution |
Kalinor® retard P | 600 mg, 0-0-1-0 | – | Kalium-Zielspiegel 4,5 bis 5 mmol/l/– |
Schwedentabl. | 0,25 mg, 0-1-1-0 | – | Salzsubstitution/– |
L-Thyroxin Tabl. | 50 µg, ½-0-0-0 | 25 µg, ½-0-0-0 | Schilddrüsendysfunktion |
Digoxin Tabl. | 0,25 mg, 0-½-0-0 | 0,25 mg, 0-½-0-0 | Herzfrequenz |
Madopar® Depot | 125 mg 0-0-0-1 | 125 mg 0-0-0-1 | Parkinson |
Madopar® Hartkapseln | 125 mg, 1-1-1-1 | 125 mg, 1-1-1-1 | Parkinson |
Melperon FTA | 25 mg, 0-0-0-1 | – | starke Unruhe |
Quetiapin FTA | – | 25 mg, 0-0-0-1, bei Bedarf zusätzlich 25 mg mittags | starke Unruhe |
Mirtazapin FTA | 15 mg, 1-0-0-0 | 15 mg, 0-0-0-1 | Stimmung, Schlafstörung |
Mirtazapin FTA | 30 mg, 0-0-0-1 | – | Depression |
Pantoprazol | 20 mg, 1-0-0-0 | – | Magenschutz/– |
Pulmicort Susp. | 0,5 mg/2 ml, 1–2× tägl. | 0,5 mg/2 ml, 1–2× tägl. | –/COPD, über Inhalator mit NaCl |
Spiriva® HandiHaler® | 18 µg, 1-0-0-0 | – | COPD |
Symbicort® Turbohaler® | 320/9 µg/Dosis, 1-0-2-0 | – | COPD |
Xarelto FTA | 15 mg, 1-0-0-0 | – | Blutverdünnung |
Metamizol 500 mg/ml Tropfen | – | bei Bedarf 20 Tr. bis zu 4× tägl. | Schmerzen |
Frau E. wurde insgesamt fast sechs Monate ambulant palliativ versorgt. Nach Absetzen und Umstellen der Medikation stabilisierte sie sich und lebte ein gutes halbes Jahr zu Hause ohne weitere Krankenhauseinweisungen. Erst in den letzten vier Wochen vor ihrem Tod nahmen die nächtliche Unruhe und Dysphagie zu, sodass alle oralen Medikamente abgesetzt wurden und sie auf eine subkutane patientenkontrollierte Analgesie mittels Pumpe umgestellt wurde (PCA mit 12,0 mg Morphinsulfat, 12,0 mg Midazolam und 5,0 mg Levomepromazin pro 24 Stunden). Darunter verstarb sie zu Hause und gut symptomkontrolliert im Kreise ihrer Angehörigen.
Stefanie Pügge ist Fachapothekerin für klinische Pharmazie. Sie hat Pharmazie an der TU Braunschweig studiert. Nach ihrer Tätigkeit als Apothekerin im Städtischen Klinikum Braunschweig war sie einige Jahre als pharmazeutische Projektkoordinatorin bei Apotheker ohne Grenzen beschäftigt und leitete dort die internationalen Projekte. Seit 2021 beschäftigt sie sich am Kompetenzzentrum Palliativpharmazie mit dem Off-Label-Einsatz von Arzneimitteln und promoviert seitdem zu einem Thema in diesem Bereich.
Petra Dietz-Laukemann ist Palliativmedizinerin und leitet als Oberärztin das Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV Landkreis München und Ebersberg) der Klinik für Palliativmedizin am LMU Klinikum. Sie hat an der FAU Erlangen-Nürnberg Medizin studiert und war an der Medizinischen Klinik des LMU Klinikums und später im ambulanten hausärztlichen Bereich tätig. Seit 2010 ist Dr. Dietz-Laukemann in leitender Funktion in der SAPV tätig. Seit 2014 unterrichtet sie als Referentin in der Fort- und Weiterbildung verschiedener Berufsgruppen an der Christophorus-Akademie. Sie arbeitet eng mit der Palliativpharmazie zusammen und bringt ihren erfahrenen Blick als Palliativmedizinerin mit ein.