Streit um Aufhebung der Quarantänepflichten |
Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, will durch die Aufhebung der Quarantänepflichten die Personalnot lindern. / Foto: imago images/Jürgen Heinrich
Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, will alle Isolations- und Quarantänepflichten »bis auf weiteres« aufheben. »Dadurch würde die Personalnot vielerorts gelindert«, sagte Gassen der »Neuen Osnabrücker Zeitung« (Samstag). Gassen bezeichnete die Omikron-Virusvariante »fast als Friedensangebot des Virus«.
Wer sich nach einer Dreifachimpfung anstecke, »profitiert sogar von einer Infektion, indem er oder sie eine Schleimhautimmunität erwirbt«, sagte er. Niemand sollte sich deshalb aber aktiv anstecken. »Aber wir können uns nicht dauerhaft vor dem Virus verstecken. Und wir sind das letzte Land in Europa, das noch derart aufgeregt über einen Corona-Notstand diskutiert«, urteilte Gassen. »Wir müssen zurück zur Normalität. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit. So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch«, erklärte er. Mit diesem Vorschlag ist auf große Kritik aus allen Lagern gestoßen.
Aus dem Bundesgesundheitsministerium hieß es, aktuell würde eine weitere Verkürzung der Fristen zu den Möglichkeiten der Freitestung «keinen Sinn» machen. Mit den geltenden Empfehlungen sei im Frühjahr bereits auf sich verschärfende Personalsituationen reagiert worden, hieß es weiter. Derzeit gilt für die allgemeine Bevölkerung, dass die vorgeschriebene Isolation für Corona-Infizierte nach fünf Tagen enden kann - mit einem »dringend empfohlenen« negativen Test zum Abschluss. Angesichts der »hochdynamischen Infektionslage« sollte man genau überlegen, ob es Sinn mache, die Regeln zur Isolation zu lockern, warnte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek. »Im Herbst erwarten wir einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen. Niemand weiß, welche Virusvariante dann vorherrschen wird«, teilte Holetschek mit.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, hielt Gassen »Opportunismus« vor. »Die Isolation schützt. Denn so wird verhindert, dass sich andere anstecken. Long- und Post-Covid sind die Folgen. Schon über fünf Millionen Genesene leider darunter«, sagte Brysch. Gassen spiele mit der Gesundheit der Menschen. Gassen räumte ein, dass die Infektionszahlen seit Monaten sehr hoch seien und es wegen weniger Tests wohl zusätzlich Hunderttausende nicht erkannter Ansteckungen pro Tag gebe. Die Verläufe seien aber fast immer mild. »Das Problem sind also nicht die vielen Infektionen, sondern, dass positiv Getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zu Hause bleiben, in Isolation geschickt werden. Dadurch entstehen die Personalengpässe in den Kliniken und anderswo.«
Auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, wies auf Probleme im Zusammenhang mit der Isolationspflicht hin. »Die Belastung steigt stetig, der deutliche Mehraufwand durch die Pflicht zur Isolation nimmt zu«, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe – ohne jedoch ein Abrücken von den derzeitigen Vorgaben zu fordern. Wegen des Ausfalls von Mitarbeitern müssten in zahlreichen Krankenhäusern planbare Operationen verschoben und zeitweise ganze Bereiche abgemeldet werden.
Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sagte der »Rheinischen Post« (Online/Print Montag): »Die Aufhebung von Quarantäneregeln aus Arbeitsmarktgründen ist aus ärztlicher Sicht nicht zu vertreten. Unsere Aufgabe ist es, Menschen vor Krankheit, Leid und Tod zu bewahren.«
Der FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann gab Gassen dagegen recht. »Dies ist ein lösungsorientierter Ansatz, um einen klügeren und individuellen Umgang mit Corona-Infektionen zu ermöglichen«, teilte er am Wochenende mit. »Die Isolierungsdauer von Patienten mit Covid-19 sollte nicht mehr von staatlicher Seite fixiert sein. So können wir zu einer gewissen Normalität und Unaufgeregtheit zurückkehren.« Die Isolationsdauer sollte nach Ullmanns Worten künftig eine medizinische und individuelle Entscheidung sein.
Auf Eigenverantwortung setzt auch FDP-Chef Christian Lindner – allerdings mit Blick auf künftige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. »Es darf in Zukunft nicht mehr flächendeckende, pauschale Freiheitseinschränkungen für alle geben«, sagte Lindner den Funke-Zeitungen. »Wir brauchen gezielte Maßnahmen, die möglichst viel gesellschaftliches Leben garantieren und den Menschen möglichst viel Eigenverantwortung belassen.«
Zwischen dem Gesundheits- und Justizministerium laufen derzeit Gespräche über die Corona-Maßnahmen, die künftig im Kampf gegen die Pandemie möglich sein sollen. Im September läuft die Rechtsgrundlage für die inzwischen stark eingeschränkten Regeln aus. Die Union drängt die Ampel-Koalition, schnell Vorkehrungen zur Corona-Eindämmung im Herbst zu treffen. »Außer vagen Andeutungen zur Maskenpflicht lässt die Regierung bislang offen, wie sie das Land für den Herbst mit Corona konkret wappnen will«, sagte der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge (CDU), der »Welt« (Online Sonntag/Print Montag).
Die Regierung müsse klarmachen, welche Schwerpunkte sie bei der Novelle des Infektionsschutzgesetzes setzen wolle. »Wir brauchen dabei endlich mehr Pragmatismus und Eigenverantwortung«, forderte Sorge. FDP-Gesundheitsexperte Ullmann sagte der »Welt«: »Das Gesetzgebungsverfahren wird planmäßig im September abgeschlossen sein.« Er erklärte: »Zusätzlich befinden wir uns möglicherweise in der Endphase der Pandemie und besitzen bereits viel bessere Werkzeuge als Lockdowns oder andere Zwangsmaßnahmen, nach denen es so manchen gelüstet.« Die medizinischen Möglichkeiten seien heute deutlich besser als in den Vorjahren.
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