Spielwiese für Emotionen |
Hallihallo: Die Skulpturen von Ayla Turan zeigen Kinder und ihre Welt. Dieses Werk namens »Fragile« spielt auf die Schutzbedürftigkeit der Kleinen an. / Foto: PZ/Gaaz
Die Bilder, Skulpturen, Fotografien und Installationen sind manchmal drastisch, erschreckend oder verwirrend oder einfach nur humorvoll. Auf jeden Fall ziehen die Werke der diesjährigen Nord Art die Betrachter in den Bann. In diesem Jahr stehen 17 Künstlerinnen und Künstler aus der Türkei im Fokus der internationalen Kunstausstellung. Die Entscheidung für das Land stand schon vor der Erdbebenkatastrophe. Für den Kurator des Türkischen Pavillons, Kemal Tufan, gewinnt die Ausstellung vor diesem Hintergrund aber noch einmal an Bedeutung: »Lassen Sie uns gemeinsam auf die konstruktive und heilende Kraft der Kunst setzen.«
Die Schutzbedürftigkeit der Jüngsten der Gesellschaft zeigt die Künstlerin Ayla Turan mit ihren übergroßen Kinder-Skulpturen. Sie gibt ihnen eine glatte, weiße Form und fängt damit die Unschuld, Lebendigkeit und Reinheit der Kindheit ein. Eines der Kinder lugt neugierig aus einer großen Transportkiste hervor, die sie mit »Fragile« beschriftet hat.
Die Installation »Scream« von Server Demirtaş beleuchtet das andere Ende der Lebensphase. Der Künstler schafft es, mit Silikon, Kleidung und einer versteckten Mechanik ein hyperrealistisches Bild einer sehr alten und armen Frau zu kreieren. Wenn sie alle zwei Minuten zu einem stummen Schrei ansetzt und kurz darauf wieder ihre regungslose Ausgangsposition einnimmt, läuft dem Betrachter ein Schauer über den Rücken.
Aber was passiert eigentlich im Körper des Betrachters, wenn Kunst Gefühle wie Freude, Langeweile, Nostalgie, Verwirrung oder Rührung auslöst? Genau wie bei Musik, Filmen oder der Natur sprechen Wissenschaftler in dem Fall von ästhetischen Emotionen. Die bewerten wir häufig selbst dann als positiv, wenn der eigentliche Inhalt des Kunstwerks negativ besetzt sein müsste. Im Medienportal der Universität Wien berichtet Professor Helmut Leder, der zur visuellen Ästhetik forscht: »Beim Anschauen von Bildern wie beispielsweise einem Kriegsgemälde können verschiedene Facetten des Grauens durchlebt werden, ohne selbst einer unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt zu sein. Kunstwerke ermöglichen es uns also, alle Facetten des Emotionalen ohne direkte Konsequenzen erleben zu können.« Da ästhetische Emotionen nicht mit einer direkten Handlungsaufforderung verknüpft seien, wie es im Alltag meist der Fall ist, würden sie weniger intensiv gespürt. Damit böten sie eine ausgezeichnete Spielwiese, um den Umgang mit »echten«, alltäglichen Emotionen zu erproben.
Samuel Salcedo aus Barcelona hat noch einen anderen Weg gefunden, menschliche Befindlichkeit und Verletzlichkeit tiefgründig und humorvoll künstlerisch zu verarbeiten. Als Bildhauer hat er zahlreiche große Kopf-Skulpturen mit den unterschiedlichsten Gesichtsausdrücken geschaffen. Wie große Bälle aus Eisen, Aluminium oder Polyurethan hängen sie an der Wand oder liegen im Kies auf dem Boden. Sie faszinieren, irritieren und befremden. Weggucken fällt schwer.
Das gilt auch für die Werke von Kayee C, die in Hongkong mit einer Hörbehinderung geboren wurde und später Kunstfotografin geworden ist. Sie wirft einen kritischen, unkonventionellen und manchmal poetischen Blick auf die Art und Weise, wie Menschen sich zueinander verhalten. Die in ihren Portraits inszenierten Charaktere befinden sich im Spagat zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und dem Wunsch, sie selbst zu sein. Ihre einsame Arbeitsweise betrachtet sie als Ausgleich zwischen ihrer Einschränkung und kreativer Erfüllung. Künstlerische Betätigung ist für sie als körperlich eingeschränkter Mensch eine zusätzliche Möglichkeit, zu kommunizieren und sich auszudrücken.
Erfüllung erlebte auch Dejo Denzer, nachdem er als Autodidakt zur Kunst gekommen ist. Der promovierte Biologe ist nicht das erste Mal bei der Nord Art vertreten. Im vergangenen Jahr erhielt er für seine Schuhcharakterköpfe einen Publikumspreis. Dieses Jahr überrascht er mit seinem fabelwesenartigen Fischrelief aus ausgedienten Musikinstrumenten. Die Tasten des Körpers stammen von einem um 1850 gebauten Klavier. Der Kiemendeckel sowie einige Flossenstrahlen wurden aus den Teilen einer elektro-pneumatischen Orgel der Jahrhundertwende und die Schwanzflosse aus einem geteilten Akkordeonbalg gestaltet. Ihn faszinieren Wahrnehmungsphänomene im optischen wie auch im übertragenen Sinn.
Auch der Ausstellungsort, die ehemalige Eisengießerei der Carlshütte, ist ein Kunstwerk. Sie war das erste Industrieunternehmen der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Nach 170 Jahren wurde sie im Jahr 1997 stillgelegt. Nun ist sie selbst ein beeindruckendes Industriedenkmal und bietet mit ihren 22.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche eine einmalige Atmosphäre und ausreichend Platz und Luft für Kunstwerke und Besucher. Zur Carlshütte gehört ein 80.000 Quadratmeter großer Park. Hier sind die größten Skulpturen ausgestellt, wie beispielsweise die Menschenaffen »Original Sin« des chinesischen Künstlers Liu Ruowang. Oder dessen sechs Meter hohe Pinocchio-Figur, um die eine Gruppe scheinbar manipulierter lebensgroßer Menschen im Kreis läuft. Sie hängen an unsichtbaren Fäden wie Marionetten. Man wünscht sich, sie würden aufwachen und sich aus der Manipulation befreien.
Die Ausstellung Nord Art, Kunstwerk Carlshütte, Vorwerksallee, 24782 Büdelsdorf, ist noch bis zum 8. Oktober 2023 zu sehen.