Sabotage aus der Körpermitte |
Annette Rößler |
13.03.2025 18:00 Uhr |
Bei Menschen mit Adipositas funktioniert das Belohnungssystem im Gehirn nicht wie bei schlanken Personen. Diese Veränderungen kommen durch den Verzehr von Lebensmitteln zustande, die sowohl viel Fett als auch viel Zucker enthalten. / © Shutterstock/SrideeStudio
Adipositas ist laut geltender S3-Leitlinie eine »über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts, die mit gesundheitlichen Risiken einhergeht«. Zustande kommt dieser Zustand meist durch Überernährung insbesondere mit Lebensmitteln, die gleichzeitig viel Fett und viel Zucker enthalten. Es sei sicherlich kein Zufall, dass die Häufigkeit von Adipositas in westlichen Ländern seit den 1970er-Jahren – parallel zur Industrialisierung der Lebensmittelproduktion – gestiegen sei, sagte Dr. Ruth Hanßen, Leiterin der Arbeitsgruppe Translationale Stoffwechselforschung an der Uniklinik Köln, bei einer Online-Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) am 11. März.
Die Körperfettvermehrung geht mit Veränderungen im Stoffwechsel einher, etwa mit einer Insulinresistenz, die auch das Gehirn betrifft. »In der Folge kann das Gehirn Signale, die der Körper aussendet, oft nicht mehr richtig interpretieren: Betroffene essen dann beispielsweise zu viel, obwohl der Körper bereits genug Energie hat, da das Gehirn weiterhin ein Hungersignal sendet«, erklärte Hanßen. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen erneut, dass dieser Effekt bei Aufnahme entsprechender Lebensmittel bereits nach wenigen Tagen eintritt und dann zunächst bestehen bleibt.
Die gestörte Kommunikation zwischen der Peripherie und dem Gehirn sei dabei nicht auf das Essverhalten beschränkt. »Bei Menschen mit erhöhtem Körpergewicht und Insulinresistenz funktionieren bestimmte Zentren nicht mehr gut, unter anderem das Belohnungszentrum. Das beeinflusst allgemein die Entscheidungsfindung von Menschen mit Adipositas: Sie sind weniger bereit, sich für eine Belohnung anzustrengen«, so die Endokrinologin unter Verweis auf eigene Untersuchungen.
Zusammen mit anderen Forschenden konnte Hanßen zeigen, dass diese Veränderungen tatsächlich von hochkalorischen, fett- und zuckerreichen Lebensmitteln ausgelöst werden und vor allem die dopaminergen mesolimbischen Bahnen im Gehirn betreffen. Lässt sich dieser Prozess rückgängig machen, indem Betroffene ihre Ernährung umstellen und abnehmen? Das sei derzeit nicht bekannt, so die Referentin. Es gebe aber Daten, die darauf hindeuten, dass die Veränderungen nicht reversibel sind.
Allerdings lässt sich medikamentös gegensteuern, und zwar mit Inkretinmimetika. Hanßen und Kollegen konnten belegen, dass der Agonist am Rezeptor des Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1-RA) Liraglutid bei Menschen mit Adipositas die Störung des assoziativen Lernens revidiert. Beim assoziativen Lernen werden äußere Reize mit Lerninhalten verknüpft, wodurch im Gehirn Verbindungen entstehen.
Nahrungsmittel, die sowohl viel Fett als auch viel Zucker enthalten, sind zum Beispiel Fast Food und Süßigkeiten. Sie sind in der Regel menschengemacht; in der Natur gibt es solche Lebensmittel kaum. Das Belohnungssystem des Gehirns wird durch sie besonders stark stimuliert – so stark, dass es offenbar überfordert ist und dauerhaft abstumpft. Ein Teil der Wirkung von Inkretinmimetika beruht laut geltender Auffassung darauf, dass die Medikamente ebenfalls im Belohnungssystem aktiv sind, weshalb sie etwa auch bei Suchterkrankungen wirksam zu sein scheinen.
GLP-1-RA und andere Inkretinmimetika vermitteln ihre Effekte auf das Hungergefühl, die man sich beim Einsatz der Medikamente als »Abnehmspritzen« zunutze macht, über zentrale Mechanismen. Wie diese genau aussehen, ist noch nicht vollständig verstanden. »Wir wissen inzwischen, dass sie über POMC-Neurone wirken. Indirekt werden AgRP-ausprägende Nervenzellen gehemmt«, erklärte Professor Dr. Jens Brüning, Direktor der Poliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Präventivmedizin an der Uniklinik Köln.
Beide Zelltypen kommen im Hypothalamus vor, der Gehirnregion, die die Nahrungsaufnahme zentral steuert. POMC-(Proopiomelanocortin-)Neuronen werden durch Sättigungshormone wie GLP-1 oder auch Leptin aktiviert, AgRP-(Agouti-Related-Peptide-)Neuronen durch Hungerhormone wie Ghrelin. Am gewichtsreduzierenden Effekt der Inkretinmimetika seien sowohl deren Wirkung auf den Hypothalamus als auch auf das Belohnungssystem beteiligt, so Brüning. Zu den genauen Zusammenhängen brauche es weitere Grundlagenforschung.
Einen Beitrag hierzu hat jetzt ein Autorenteam geleistet, dem Brüning als Seniorautor angehört: Im Fachjournal »Nature« veröffentlichte es eine vollständige, auf Zellebene räumlich genaue Karte des menschlichen Hypothalamus, die »Hypomap« (DOI: 10.1038/s41586-024-08504-8). Dies war wichtig, weil viele Forschungsergebnisse etwa zu den GLP-1-RA an Mäusen generiert wurden. Ein Vergleich der menschlichen Hypomap mit Mausdaten habe gezeigt, dass ein Großteil der Nervenzellen konserviert sind. »Aber beim Menschen haben die Zelltypen teilweise andere Oberflächenmerkmale«, berichtete Brüning.
Man dürfe daher nicht nur von Mauszellen ausgehen, um neue Therapeutika zu entwickeln. »Jetzt können wir genau nachschauen, welche Zellen bei Menschen GLP-1-Rezeptoren tragen. So können wir womöglich irgendwann auch noch bessere Medikamente entwickeln«, erklärte der Experte.
Hinter dieser Grundlagenforschung steckt daher auch ein starkes Interesse der Pharmaindustrie, was sich auch daran ablesen lässt, dass dem Autorenteam einige Mitarbeitende von Novo Nordisk angehören. Das dänische Unternehmen hat mit Semaglutid (Ozempic®, Wegovy®) einen der zurzeit populärsten GLP-1-RA entwickelt. Wegbereiterin dieser Entwicklung war Lotte Bjerre Knudsen, die ebenfalls an der Hypomap mitgearbeitet hat.
Trotz ihrer allgemein guten Wirksamkeit gibt es bei den GLP-1-RA nämlich durchaus noch Raum für Verbesserungen. »Bei den meisten Menschen wirken diese Medikamente. Es gibt aber auch Menschen, die unter der Therapie weiter zunehmen«, berichtete Brüning. Nonresponder machten etwa 10 Prozent der behandelten Patienten aus. Auf der anderen Seite gebe es auch Superresponder, die unter der Therapie überdurchschnittlich viel Gewicht verlieren – das Spektrum sei breit. Es sei wichtig, auf zellulärer Ebene zu verstehen, was die einzelnen Patientengruppen auszeichnet.