| Daniela Hüttemann |
| 08.02.2024 16:30 Uhr |
Die AOK mahnt, jede Antibiotika-Verordnung kritisch zu hinterfragen. Bei leichten grippalen Infekten sind Antibiotika jedenfalls nicht angezeigt. / Foto: Getty Images/Ekaterina Demidova
Im Jahr 2022 wurden in Deutschland rund 31 Millionen Verordnungen über Antibiotika im Wert von 733 Millionen Euro zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet – das ist etwas mehr als in den beiden Vorjahren, den Pandemie-Jahren 2020 und 2021, aber immer noch etwa 10 Prozent weniger als im Vor-Pandemie-Jahr 2019 (da waren es 34 Millionen Verordnungen). Etwa jedes 25. ärztliche Rezept im Jahr 2022 war somit eines für ein Antibiotikum.
»Der Anteil der Reserveantibiotika lag mit 42 Prozent weiter auf ähnlichem Niveau wie in den »Corona-Jahren« 2020 und 2021 und etwa 5 Prozent unter dem Verordnungsanteil von 2019«, berichtet das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO). Zwar sinken hier seit 2013 die Verordnungszahlen. Doch trotz des grundsätzlich positiven Trends würden Reserveantibiotika immer noch zu häufig verordnet, bemängelt WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. »Je sorgloser sie verordnet werden, desto resistenter werden Bakterien gegen Antibiotika.« Dabei gab es große regionale Unterschiede innerhalb Deutschlands.
Durchschnittlich waren es bundesweit 191 Standard- und 176 Reserveantibiotika-Verordnungen pro 1000 Versicherte. In Hessen wurden dabei fast doppelt so viele Reserveantibiotika pro 1000 Versicherte verordnet wie in Hamburg (118 versus 227). Bei den Gesamtverordnungen liegt das Feld zwischen 276 Verordnungen je 1000 Versicherte in Hamburg und 444 Verordnungen je 1000 Versicherte im Saarland.
Zu den Standardantibiotika zählt das WIdO alle Basispenicilline bis auf Temocillin, Amoxicillin plus Beta-Lactamase-Inhibitor, Flucloxacillin und Sultamicillin, die beiden Makrolide Erythromycin und Clindamycin, alle Tetrazykline bis auf Tigecyclin, Metronidazol, Nitrofurantoin, Fosfomycin, Oralcephalosporine und bei den parenteralen Antibiotika Amoxicillin und Ampicillin jeweils mit Beta-Lactamase-Inhibitor. Alle anderen inklusive Cephalosporine, Folsäureantagonisten und Chinolone gehören zu den Reserveantibiotika.
Das WIdO befürchtet, dass die Arzneimittel-Lieferengpässe die Resistenzproblematik weiter verschärfen könnten, wenn von der Standardtherapie abgewichen werden muss. Vor allem betroffen waren und sind Standardantibiotika wie Amoxicillin, Phenoxymethylpenicillin und Ampicillin, aber auch Reserveantibiotika wie Cotrimoxazol und Cefaclor. »Das kritische Hinterfragen jeder Antibiotikaverordnung und ein rationaler, leitlinienkonformer Einsatz von Reserveantibiotika sind weiter angezeigt«, mahnt Schröder trotz Lieferengpässen.
Damit in Deutschland auch weiterhin ein Versorgungsengpass bei Antibiotika vermieden werden könne, müsse der Gesetzgeber durch ein verpflichtendes Meldeverfahren von pharmazeutischen Herstellern, Großhändlern und Apotheken für eine lückenlose Transparenz über die komplette Lieferkette für Antibiotika und andere Arzneimittel sorgen, fordert das WIdO.
Zudem erinnert das Institut daran, dass weiterhin dringender Bedarf an neuen antibiotischen Wirkstoffen besteht. »In den vergangenen zehn Jahren waren lediglich neun von insgesamt 362 Wirkstoffen, die neu in den Markt eingeführt worden sind, Antibiotika«, heißt es in der Pressemitteilung. Der betriebswirtschaftliche Anreiz scheine zu fehlen. »Die Pharmaindustrie fokussiert sich lieber auf Wirkstoffe, mit denen noch höhere Preise und noch höhere Umsätze erzielt werden können«, klagt Schröder. Eine öffentliche Finanzierung sei denkbar, nur dürfe die Industrie dann nicht mit hohen Preisen zur Kasse bitten.
Erfreulich sei, dass der Antibiotikaverbrauch in der Tierhaltung anhaltend rückläufig ist. Während zur Versorgung von Menschen im Jahr 2022 rund 272 Tonnen Antibiotika zum Einsatz kamen, waren es gemäß der Zahlen des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit rund 540 Tonnen durch Tiermediziner – zehn Jahre vorher hatten die Veterinäre noch 1452 Tonnen Antibiotika abgegeben (minus 63 Prozent im Vergleich zum Jahr 2013).
»Hier hat eine Anpassung im Arzneimittelgesetz gegriffen, nach der seit 2014 der Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung auf das therapeutisch unverzichtbare Mindestmaß reduziert werden soll«, erklärt WIdO-Chef Schröder. Trotzdem bestehe immer noch die Gefahr, dass zu viele Antibiotika-Wirkstoffe mit tierischen Ausscheidungen über Kläranlagen oder als Dünger ins Oberflächen- und Grundwasser gelangen.