»Reform mit Game-Changer-Qualität nötig« |
Präsentierten Ideen für eine Strukturreform (von re.): BAH-Geschäftsführer Michael Hennrich, Professor Christine Arentz von der TU Köln und Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. ABDA-Pressesprecher Benjamin Rohrer (li.) moderierte die Diskussionsrunde beim DAV-Wirtschaftsforum. / Foto: André Wagenzik
Wie lassen sich die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wieder auf solidere Füße stellen? Ist eine Strukturreform in nächster Zeit realistisch? An welchen strukturellen Problemen krankt das deutsche Gesundheitssystem? Wie lassen sich Engpässe bei der Arzneimittelversorgung vermeiden? Ist es sinnvoll und bezahlbar, wieder mehr Arzneimittel in Europa zu produzieren? Über diese und weitere Fragen tauschten sich am gestrigen Mittwoch Experten auf dem DAV-Wirtschaftsforum in Berlin aus. An der Diskussionsrunde beteiligten sich Christine Arentz, Professorin für Volkswirtschaftslehre und Gesundheitsökonomik am Institut für Versicherungswesen der Technischen Hochschule Köln, der Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit, Andreas Storm, und Michael Hennrich, seit Februar Geschäftsführer Politik des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH).
»Kurzfristig können wir an verschiedenen Stellschrauben drehen. Aber mittelfristig brauchen wir Strukturreformen«, betonte Christine Arentz. Vor der Corona-Pandemie sei die finanzielle Situation der GKV gut gewesen, aber seit 2020 seien die Ausgaben stärker gestiegen als die Einnahmen. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz könne die Lücke nur kurzfristig schließen. Bereits ab dem kommenden Jahr rechnet die Professorin für Volkswirtschaftslehre und Gesundheitsökonomik erneut mit Defiziten. Ihre These: »In einer alternden Gesellschaft können wir nicht mehr alles finanzieren«. Um kurzfristige Rationierungen zu vermeiden, sei es daher sinnvoll, sich bereits heute auf gerechte Verteilungskriterien zu einigen. Dafür brauche es eine gesamtgesellschaftliche Debatte. Arentz nannte zudem verschiedene Möglichkeiten, das System kurzfristig zu stabilisieren, beispielsweise durch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze oder höhere Zusatzbeiträge. Um die Ausgaben zu begrenzen, seien unter anderem Leistungskürzungen oder Selbstbehalte denkbar. Wenn bei Leistungserbringern gekürzt werde, müsse beachtet werden, welche Wirkung dies haben könne, führte Arentz aus.
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, hält ebenfalls eine Reform des GKV-Systems für dringend notwendig. »Wir brauchen wieder eine Reform mit Game-Changer-Qualität wie 2003 und 2008«, forderte er. Für den Umbau sei allerdings Geld nötig. Denkbar sei, einen Transformationsfonds einzurichten. Der Gesundheitsmarkt sei ein Wachstumsmotor, aber die GKV kranke daran, dass sie unterfinanziert sei. Die Kassen hätten ein »gravierendes Einnahmenproblem«. Grund dafür sei unter anderem, dass der Bund für die Gesundheitsversorgung der Grundsicherungsempfänger lediglich 110 Euro im Monat zahle, was viel zu wenig sei. Allein für diese Versicherten müsse der Bund 11 Milliarden Euro im Jahr mehr beisteuern.
»Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir neu nachdenken müssen«, betonte Michael Hennrich. Der Gesundheitspolitiker und langjährige Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU sprach sich für einen parteiübergreifenden Dialog bei einer Strukturreform aus. Das System sollte behutsam weiterentwickelt werden. Im Februar hatte Hennrich sein Bundestagsmandat niedergelegt, um die Geschäftsführung des BAH zu übernehmen. Beim DAV-Wirtschaftsforum führte er aus, dass es von 2011 bis 2019 satte Überschüsse im System gegeben habe, die Reserven aber nun aufgebraucht seien. Er plädierte für mehr Transparenz im System. Sinnvoll sei auch, über eine Art »Sozial-Soli« sowie die Regionalisierung der Krankenhausbeiträge nachzudenken, so Hennrich. Neue Strukturen zu schaffen, wie beispielsweise die Gesundheitskioske, lehne er hingegen ab.
Doch wann ist eine grundlegende Strukturreform zu erwarten? Professorin Arentz hofft, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dazu einen Vorschlag präsentieren wird, befürchtet jedoch, dass es angesichts der schwierigen Gesamtsituation »kein großer Wurf wird«. »Wir können uns damit nicht zehn Jahre Zeit lassen«, sagte sie. DAK-Vorstandschef Storm sieht kurzfristig keine Chance für eine grundlegende Reform. Bei den Leistungen könne die GKV nicht sparen, und aus dem Bundeshaushalt sei wegen der Schuldenbremse so bald kein zusätzliches Geld zu erwarten. »Wenn die Reform nicht kommt, ist das allerdings dramatisch. Wir werden die Krankenhaus-Reform gegen die Wand fahren und beim Gesundheitsmarkt eine Chance vergeben«, machte Storm deutlich.
Diskutiert wurde auch über den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. »Der Wettbewerb funktioniert nicht«, äußerte Hennrich. Auch DAK-Vorstandschef Storm räumte ein, dass es derzeit eher einen Wettbewerb um Zusatzangebote statt um die beste Versorgung gebe. Aus diesem Grund die Zahl der Kassen zu reduzieren, um Kosten zu sparen, sei aber nicht zielführend. »Wir müssen jedoch über neue Wege der Kooperation zwischen den Kassen nachdenken. Nur so bekommen wir Megathemen wie die Digitalisierung hin«, zeigte sich Storm überzeugt.
Und wie lassen sich massive Engpässe bei Arzneimitteln künftig vermeiden? Bei der Frage, ob es sinnvoll sei, einen Teil der Arzneimittelproduktion wieder nach Europa zu verlagern, gingen die Ansichten auseinander. »Es ist gesamtgesellschaftlich nicht sinnvoll, die gesamte Generikaherstellung nach Europa zu holen«, sagte Arentz. Es ergebe Sinn, dort zu produzieren, wo es kostengünstig sei. Zugleich betonte die Expertin für Volkswirtschaft, dass »wir Kosten auf uns nehmen müssen, um die Lieferketten zu stabilisieren«. DAK-Vorstandschef Storm sieht derzeit ebenfalls keine Möglichkeit, auf das Instrument der Rabattverträge zu verzichten. Da bei der DAK-Gesundheit viele Rentnerinnen und Rentner versichert seien, würden ansonsten die Kosten aus dem Ruder laufen. »Wir müssen überlegen, wie wir langfristig die Arzneimittelversorgung sicherstellen wollen«, so Storm.
BAH-Geschäftsführer Hennrich hält hingegen eine Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion nach Europa für notwendig. Vom Entwurf des Lieferengpass-Gesetzes zeigte er sich enttäuscht. So sieht der vom Kabinett beschlossene Entwurf nur noch für Antibiotika Änderungen am Rabattvertragssystem vor, nicht mehr – wie noch im Referentenentwurf – auch für Krebsmedikamente. »Das System der Rabattverträge müssen wir ändern«, plädierte Hennrich.
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