Reden hilft! |
Brigitte M. Gensthaler |
09.09.2022 15:30 Uhr |
Zuhören, miteinander reden und einander trösten: Das hilft in scheinbar ausweglosen Situationen am besten. / Foto: Adobe Stock/Antonioguillem
Der Welttag der Suizidprävention macht seit 2003 jährlich am 10. September auf die Gefahren der Suizidalität aufmerksam. Das Motto lautet auch in diesem Jahr: »Aktiv werden und Hoffnung schaffen«.
»Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 9000 Menschen durch Suizid. Das sind mehr Todesfälle als durch Verkehrsunfälle, Mord und illegale Drogen zusammen«, erklärte Professor Dr. Birgit Wagner, Berlin, von der Leitung des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro) bei einer Pressekonferenz zu dessen 20-jährigen Bestehen. Statistisch gesehen nehme sich alle 57 Minuten in Deutschland ein Mensch das Leben; mehr als drei Viertel davon sind Männer.
Von jedem vollendeten Suizid seien mindestens sechs Menschen unmittelbar betroffen, berichtete die Psychologin. Daher nehme der Welttag auch die Angehörigen in den Blick. »Die Trauer nach einem Suizid unterscheidet sich von der nach einem natürlichen Todesfall. Die Angehörigen trauern schwerer und geraten oft in große Schwierigkeiten. Vor allem nach dem Tod eines nahen Angehörigen durch assistierten Suizid entwickeln Menschen signifikant häufiger Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung als die Allgemeinbevölkerung.« Viele Hinterbliebene seien zudem betroffen von Stigmatisierung, Vorwürfen von außen, Selbstvorwürfen und immensen Schuldgefühlen, weil sie den Suizid nicht verhindern konnten.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie nicht mehr weiterleben möchten oder denken Sie daran, Ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen? Reden hilft und entlastet. Die Telefonseelsorge hat langjährige Erfahrung in der Beratung von Menschen in suizidalen Krisen und bietet Ihnen Hilfe und Beratung rund um die Uhr am Telefon (kostenfrei) sowie online per Mail und Chat an. Rufen Sie an unter den Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 oder melden Sie sich unter www.telefonseelsorge.de. Die Beratung erfolgt anonym.
In den letzten 20 Jahren sei die Suizidrate um 17 Prozent zurückgegangen. Dafür gebe es viele Gründe, erklärte Dr. Reinhard Lindner, Professor für Soziale Therapie an der Universität Kassel. Ein wichtiger Punkt: »Die psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung von Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen ist deutlich besser geworden.« Denn auf individueller Ebene ist das Vorliegen einer psychischen Erkrankung mit dem höchsten Suizidrisiko assoziiert: Bis zu 90 Prozent der Suizide erfolgen vor diesem Hintergrund. Bei etwa 30 Prozent der durch Suizid Verstorbenen liegt eine affektive Störung, also Depression und/oder Manie vor, bei etwa 20 Prozent eine Suchterkrankung.
Laut Lindner leisten auch Kampagnen, die das allgemeine Wissen über den Umgang mit Suizidalität fördern, einen großen Beitrag. »Die haben Wirkung, denn es ist wichtig, nicht wegzuschauen, sondern zu fragen: Wie geht’s Dir?« Das Thema anzusprechen, sei der allererste Schritt, vor dem sich jedoch viele scheuen. »Das müssen wir vermitteln: Reden hilft!« Hier sind auch Apotheken gefordert.
Die Experten konstatierten einen »erheblichen Nachholbedarf« in Deutschland in puncto Suizidprävention. Diese müsse vorrangig gefördert werden. »Deswegen fordern wir gemeinsam mit Verbänden der Suizidprävention und der Palliativ- und Hospizarbeit eine gesetzliche Fundierung der Suizidprävention«, sagte Professor Dr. Barbara Schneider, Leiterin des NaSPro. Mehr als 40 gesellschaftliche Institutionen unterstützten ein Eckpunktepapier, das im Juni 2022 formuliert wurde und sich an Bundestagsabgeordnete wendet. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, ein Schutzkonzept für Menschen mit Suizidgedanken zu entwickeln und für die Umsetzung des Konzepts zu sorgen, sagte Schneider. Im Eckpunktepapier werden beispielsweise die Einrichtung einer bundesweiten Informations-, Beratungs- und Koordinationsstelle zur Suizidprävention, die Finanzierung qualifizierter suizidpräventiver Angebote mit niedrigschwelligem Zugang und der Ausbau palliativer und hospizlicher Angebote sowie Trauerbegleitungsangebote gefordert.
Die derzeitige finanzielle Förderung des Programms reiche nicht aus. »Zur substanziellen Unterstützung der Arbeit der NaSPro und des Aufbaus niedrigschwelliger Suizidprävention brauchen wir etwa 15 Millionen Euro.«