Quälgeist im Ohr |
Eine wechselseitige Beziehung hat Tinnitus mit Stress. Bei Stress schüttet der Körper verstärkt Cortisol aus, das wiederum im Ohr die Freisetzung von Glutamat in den Nervenzellen bewirkt. In der Folge wird auch vermehrt Calcium frei gesetzt, was die Hörsinneszellen übermäßig erregt und im Gehirn zu einer Hyperaktivität führt.
Rudolph betont, dass die Zentren für das Hören im menschlichen Körper sehr eng mit denen für Aufmerksamkeit, Gefühle und Stress verbunden sind. »Wir hören ursprünglich, um den Feind in Form eines Säbelzahntigers oder der Horde vom Nachbarstamm zu hören. Hören diente also einmal dem Überleben. Es aktiviert den Stress und umgekehrt.«
Tinnitus und Stress stehen in wechselseitiger Beziehung und schaukeln sich wie in einem Teufelskreis gegenseitig hoch. / Foto: Adobe Stock/torwaiphoto
Er erklärt weiter, dass sich in der Hörbahn verschiedene Stationen befinden, die Informationen entweder herausfiltern oder verstärken können. »Unter Stress leidet vor allem die Filterfunktion. Viele stressgeplagte Tinnitus-Patienten befinden sich dadurch in einem Teufelskreis. Die Schwerhörigkeit erzeugt Hörstress und Tinnitus, die Tinnitus-Bewältigung erzeugt dann selbst wieder Stress und dieser verschlimmert den Tinnitus.«
Beim akuten Tinnitus stehen die Chancen für eine spontane Remission gut. Dennoch ist es ratsam, dass Patienten bei erstmals auftretenden Ohrgeräuschen zügig einen Hals-Nasen-Ohrenarzt aufsuchen. Dieser kann eine systemische hochdosierte Cortisontherapie, etwa als Kurzinfusion, in Tablettenform oder intratympanal, also direkt durch das Trommelfell ins Mittelohr injiziert, einleiten (7).
Ist der Tinnitus hingegen chronisch geworden, gibt es, wie es in der Patientenleitlinie steht, »den Schalter, der ein Ohrgeräusch komplett wieder abschalten kann, nicht« (2). Eine weitere schlechte Nachricht: »Es gibt auch definitiv keine Medikamente gegen den chronischen Tinnitus«, sagt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Tinnitus-Liga.
Sogenannte »Durchblutungsförderer« wie Ginkgo-biloba-Extrakte seien keine sinnvolle Therapie: »Tinnitus im chronischen Stadium ist keine Durchblutungsstörung.« Entsprechend, so auch die Autoren der Leitlinie, liefern die vorliegenden Übersichtsarbeiten zu pflanzlichen Präparaten mit Ginkgo entweder kein eindeutiges Ergebnis oder kommen zu dem Schluss, dass die Mittel keinen Nutzen gegenüber Placebo haben.
Beim akuten Tinnitus kann die umgehende systemische Corticoid-Therapie, etwa als Kurzinfusion, in Tablettenform oder intratympanal, angezeigt sein. / Foto: Adobe Stock/Elnur
Studien, die eine Evidenz zeigen, wurden mit dem Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761 durchgeführt, die Leitlinienautoren sehen die Ergebnisse allerdings durch ein Bias verzerrt (3, 8–12). Zu beachten sei, dass sich Evidenz nach einigen im Rahmen einer Metaanalyse 2018 überprüften Untersuchungen insbesondere bei speziellen Patientengruppen, zum Beispiel bei Menschen unter anderem mit Tinnitus und Schwindel im Zusammenhang mit Demenz, zeige.
Ebenso wenig sehen die Experten ausreichende Wirksamkeitsbelege für Betahistin, Benzodiazepine, Zink, Melatonin, Oxytocin, Steroide oder Gabapentin. Zu Betahistin ergab eine Cochrane-Meta-Analyse, dass bei chronischem Tinnitus keine Wirksamkeit vorliegt (14). Auch für die Gabe von Benzodiazepinen finden die Autoren einer systematischen Übersichtsarbeit bei subjektivem Tinnitus keine belastbare Evidenzgrundlage. Zu bedenken sind zudem die erheblichen Nebenwirkungen der Substanzen, die Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung und die strenge Indikationsstellung (3, 15).
Wird bei Tinnitus auch die intratympanale Steroidtherapie diskutiert, so attestieren die Leitlinienautoren dieser Therapie aber allenfalls eine geringe Wirkung bei chronischem Tinnitus. Effektiver sei die Anwendung, wenn gleichzeitig ein akuter Hörverlust auftritt (3, 16–18). Zu beachten ist ferner, dass die intratympanale Steroidtherapie nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehört.
Auch zur Beeinflussung der Neurotransmission wird der Einsatz von Medikamenten erwogen. Für Gabapentin allein konnte nur ein sehr geringer Effekt festgestellt werden, stärker wirkte es in einer Studie in Kombination mit in den Gehörgang injiziertem Lidocain (19). Bei Glutamat-Antagonisten wie Memantin oder noch nicht zugelassenen Wirkstoffen wie Neramexan blieben Erfolge bislang aus (3).