Pharmazeutische Zeitung online Avoxa
whatsApp instagram facebook bluesky linkedin xign

Medikationsanalyse 
-
Psychopharmaka – wann intervenieren, wann nicht?

Medikationsanalyse anhand von Fallbeispielen aus der Praxis üben – das ist das Konzept hinter der Webinarreihe »100 Analysen später« von Pharma4u. Kürzlich ging es dabei um das Thema Psychopharmaka und darum, wann Apotheker die Medikation »anfassen« sollten und wann eher nicht.
AutorKontaktLaura Rudolph
Datum 02.04.2025  14:00 Uhr

In der vergangenen Folge der Webinarreihe stellte Apothekerin Sabine Haul von der Elefanten-Apotheke aus Hamburg ein Fallbeispiel vor. Es ging um eine 81-jährige Demenzpatientin. Sie litt unter Schwindel, innerer Unruhe und Schlafstörungen. Ihre Symptome hielten auch ihren Ehemann nachts wach, der schließlich die Apothekerin bat, die Medikation seiner Frau zu überprüfen.

Zudem hatte die Patientin häufigen Harndrang und war vor kurzem wegen eines neu aufgetretenen generalisierten Epilepsieanfalls im Krankenhaus behandelt worden. Gewicht, Blutdruck und Herzfrequenz der Patientin waren im Normalbereich.

Arzneistoff Dosierung Einheit
Oxybutynin, transdermales Pflaster, 3,9 mg/24 Stunden 1-0-0-0 Stück
Sertralin 50 mg 1-0-0-0 Stück
Cinnarizin plus Dimenhydrinat 20 mg / 40 mg 1-0-0-0 Stück
Promethazin-Lösung, 100 mg/mL 0-0-0-4 Tropfen
Melperon-Lösung, 25 mg/5 mL 5-0-5-0 mL
Levetiracetam-Lösung 100 mg/mL 5-0-5-0 mL
Medikationsplan der Patientin

Hohe anticholinerge Last

Den Webinarteilnehmern fiel auf, dass die Patientin fünf Arzneimittel mit teils stark ausgeprägter anticholinerger Wirkung einnimmt: Sertralin, Promethazin, Oxybutynin, Cinnarizin und Dimenhydrinat. Sie schlugen vor, zu prüfen, welche man absetzen könnte. Zudem könnten Cinnarizin und Dimenhydrinat über eine Senkung der Krampfschwelle den epileptischen Anfall begünstigt haben. Außerdem fehlte ein Medikament gegen die diagnostizierte Alzheimer-Demenz. Die Teilnehmer empfahlen auch, das Blutbild (vor allem die Elektrolyte) zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Patientin genug trinkt.

Die Nutzung einer Medikationsanalyse-Software ergab, dass Schwindel eine typische serotonerge und sehr häufige Nebenwirkung von Sertralin ist, und Schlafstörungen können eine Nebenwirkung von Sertralin und Promethazin sein. Nach der Priscus-Liste gehören Oxybutynin, Cinnarizin, Promethazin und Melperon zur potenziell inadäquaten Medikation im Alter.

Viele verordnende Ärzte

»Die Arzneistoffe wurden von vielen verschiedenen Ärzten verordnet«, sagte Haul. »Ich habe daraufhin mit allen Verordnern gesprochen.« Dabei kam heraus: Die aktuelle Hausärztin hatte die Sertralin- und Promethazin-Medikation, die erstmals von ihrem Vorgänger verordnet wurde, beibehalten und zusätzlich Cinnarizin/Dimenhydrinat gegen den Schwindel verordnet. Das Melperon hatte die ambulant tätige Neurologin wegen Schlafstörungen verordnet und das Oxybutynin-Pflaster die ambulante Urologin wegen des häufigen Harndrangs. Im Krankenhaus kam dann das Levetiracetam hinzu.

Nach dem Gespräch mit der Apothekerin setzte die Hausärztin Promethazin und Cinnarizin/Dimenhydrinat ab. Der ambulanten Urologin sei die anticholinerge Last nicht bewusst gewesen. Sie tauschte zuerst Oxybutynin gegen Trospium aus, stellte dann aber fest, dass die Inkontinenz-Arzneimittel generell nicht besonders gut bei der Patientin wirkten, aber viele Nebenwirkungen hervorriefen. Daraufhin wurden sie abgesetzt.

Die ambulante Neurologin setzte Sertralin ab und verordnete stattdessen Mirtazapin, das geringere anticholinerge Effekte hat. »Der Schlaf verbesserte sich dadurch so sehr, dass Melperon als Bedarfsmedikation abgesetzt werden konnte«, berichtete Haul. »Die Intervention hat erhebliche Verbesserungen für das Ehepaar gebracht«, ergänzte die Apothekerin. Ein Antidementivum bekam die Patientin aufgrund schlechter Verträglichkeit allerdings nicht.

Eingreifen oder nicht – eine Entscheidungshilfe

In einem Impulsvortrag betonte Haul, dass man nicht in jedem Fall in die Medikation eines Patienten »eingreifen« sollte, der Psychopharmaka einnimmt. Sie teilte eine Entscheidungshilfe mit den Teilnehmern.

Eher nicht intervenieren sollte man, wenn

  • die psychiatrische Medikation von einem einzigen Facharzt verordnet wurde,
  • regelmäßig EKG und Blutkontrollen stattfinden,
  • es dem Patienten gut geht und er von der Medikation profitiert,
  • bereits viel »ausprobiert« wurde und der Patient aktuell stabil ist,
  • der Patient labil oder ängstlich erscheint.

Eher intervenieren sollte man, wenn

  • die psychiatrische Medikation von verschiedenen Verordnern kommt,
  • die Medikation nicht von einem Facharzt kommt,
  • Kontrolluntersuchungen nicht stattfinden oder schon lange zurückliegen,
  • der Patient Beschwerden hat, sich auffällig verhält oder Wünsche in der Selbstmedikation hat, die alarmieren,
  • es Hinweise auf potenzielle, folgenschwere arzneimittelbezogene Probleme oder gibt oder klinische Hinweise (Hyponatriämie, plötzliche Veränderungen/Beschwerden, Auffälligkeiten im Verhalten),
  • der Patient »sorglos mit seinen Tabletten jongliert«.

Wichtig sei in jedem Fall, nicht über den Kopf des Patienten hinweg mit dem Arzt zu sprechen, sondern sich vorher von der Schweigepflicht entbinden zu lassen – am besten schriftlich.

Mehr von Avoxa