Psychische Probleme in der Apotheke ansprechen |
Daniela Hüttemann |
10.10.2023 18:00 Uhr |
Die Beratung von Menschen mit psychischen Problemen in der Apotheke erfordert Fingerspitzengefühl. / Foto: Getty Images/PeoplesImages
In Australien haben klinische Pharmazeuten bereits mehrere Machbarkeitsstudien durchgeführt, ob Apotheken Menschen mit psychischen Problemen erkennen und eine Triage leisten können. Das Apothekenpersonal kann und darf natürlich keine Diagnosen stellen, sei aber durchaus in der Lage, Menschen mit Hilfebedarf zu erkennen und an die richtigen Stellen zu verweisen, meint Dr. Claire O’Reilly, Associate Professor an der Sydney Pharmacy School, bei einem Webinar des Weltapothekerverbands FIP. Das Webinar fand anlässlich des heutigen Tags der seelischen Gesundheit statt, der weltweit auf psychische Erkrankungen und den Umgang damit aufmerksam machen will.
Bereits vor zehn Jahren sei die erste Machbarkeitsstudie in Australien für ein Depressions-Screening in Apotheken durchgeführt worden. 70 Prozent der angesprochenen Patienten wurde an Hilfestellen verwiesen, davon gehörten 25 Prozent nicht zu den Stammkunden. Patienten und auch Ärzte seien offen für das zusätzliche Angebot in den Apotheken. »Apotheker genießen Vertrauen und bieten einen niedrigschwelligen Zugang«, betonte O’Reilly. Sie könnten eine Triage machen und Betroffene an Psychologen, Ärzte oder Hilfestellen überweisen.
Dafür brauche es eine vertrauliche Atmosphäre in der Offizin oder einen Beratungsraum, eine Sensibilisierung und Fortbildung des Personals und ein Bewusstsein in der Bevölkerung, dass sie sich bei Problemen an ihre Apotheke wenden können. Daher sollten sich auch Apotheken an Aktionen und Kampagnen wie dem Tag der seelischen Gesundheit (Mental Health Day) beteiligen. Sie könnten zum Beispiel mit Flyern und Postern oder auf Social Media darauf aufmerksam machen, »dass man mit uns darüber sprechen kann«, so die Pharmazeutin.
Pharmazeutisches Personal sollte aber nicht nur offene Augen und Ohren haben, wenn die Patienten von sich aus seelische Probleme ansprechen. Bei Selbstmedikationswünschen wie nach Schmerz- und Schlafmitteln, auch pflanzlichen, sollte man aufmerksam sein, ob mehr dahinter stecken könnte. Ängste, Depressionen und andere psychische Probleme könnten sich in unspezifischen Symptomen wie Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust, Schmerzen und Magen-Darm-Problemen zeigen. Auch die Dauer der Symptome spielt eine Rolle. Zudem sollten besondere Lebenssituationen (Schwangerschaft und Geburt, Versterben des Lebenspartners), neue Diagnosen und Multimorbidität beachtet werden.
Dann gilt es, die Bereitschaft des Patienten für ein Gespräch abzuschätzen. »Fragen Sie zum Beispiel, wie die Person sich fühlt und sagen Sie, wenn Ihnen etwas aufgefallen ist«, riet O’Reilly. Das erfordere höchstes Fingerspitzengefühl, auch im Hinblick auf sprachliche oder kulturelle Barrieren. Zudem seien psychische Leiden immer noch stark stigmatisiert, was es vielen Menschen erschwert, sich Probleme selbst einzugestehen und Hilfe zu suchen.
nach Dr. Claire O’Reilly, Associate Professor an der Sydney Pharmacy School
Für ein richtiges Screening gibt es verschiedene Tools und Fragebögen, aus denen sich Symptomscores mit konkreten Handlungsempfehlungen ableiten lassen, ähnlich wie bei der standardisierten Blutdruckmessung (ein Beispiel ist das WHO-5 Well-Being Questionnaire).
»Wir dürfen zwar nicht diagnostizieren, aber sollten die Diagnosekriterien kennen«, meinte O’Reilly. So könnten Apotheker auch frühe Anzeichen einer psychischen Erkrankung erkennen. Es brauche jedoch noch größere Studien, um die Vorteile eines apothekenbasierten Depressions-Screenings und auch ihre Umsetzbarkeit im Alltag weiter zu belegen, Stichwort Personalmangel. »Apotheker müssen trainiert und unterstützt werden für diese Aufgaben«, betonte die Referentin.
Auch Dr. Hayley Gorton, Senior Lecturer für Pharmacy Practice an der University of Huddersfield in Großbritannien, sprach sich dafür aus, dass sich Apotheken mehr in der Ansprache von Menschen mit seelischen Problemen engagieren, speziell in der Suizidprävention.
Eine von ihr initiierte Studie aus dem Jahr 2018 zeigte, dass vielen pharmazeutischen Fachkräften nicht klar war, an wen sie solche Patienten verweisen sollten. Hier müsse der interprofessionelle Austausch besser funktionieren. Eine andere britische Studie hatte gezeigt, dass sich weder Pharmaziestudierende noch fertige Apotheker richtig vorbereitet fühlten auf die Kommunikation mit Menschen mit seelischen Problemen, aber durchaus offen für ein entsprechendes Training waren. Sie waren sich aber schon sicher, dass sie Anzeichen für Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und Essstörungen erkennen können. Doch auch hier wussten die wenigsten, zu wem sie die Patienten schicken sollten.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie nicht mehr weiterleben möchten oder denken Sie daran, Ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen? Reden hilft und entlastet. Die Telefonseelsorge hat langjährige Erfahrung in der Beratung von Menschen in suizidalen Krisen und bietet Ihnen Hilfe und Beratung rund um die Uhr am Telefon (kostenfrei) sowie online per Mail und Chat an. Rufen Sie an unter den Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 oder melden Sie sich unter www.telefonseelsorge.de. Die Beratung erfolgt anonym.
Bemerkungen des Kunden, die auf einen Verlust der Lebenslust oder suizidales Verhalten hinweisen, sollte man immer ernst nehmen. Auch auf die Körpersprache sollte man achten. So oder so sollte das pharmazeutische Personal Bescheid wissen, an wen sie betroffene Personen konkret verweisen können. »Wir brauchen sowohl mehr strukturierte Vernetzung mit entsprechenden Organisationen auf höherer Ebene als auch lokale Kooperationen«, machte Gorton deutlich. Mehr über Suizidprävention in der Apotheke in Deutschland lesen Sie hier.
Der Weltapothekerverband hat vergangenes Jahr ein Handbuch für Apotheker zur »Mental Health Care« herausgegeben, mit O’Reilly und Gorton als Koautorinnen sowie der deutschen Professorin Dr. Martina Hahn, Expertin für Psychiatrische Pharmazie. Darin geht es neben Ansprache und Screening von Patienten auch um eine Optimierung einer psychiatrischen Medikation. Es finden sich zudem Ratschläge, um die mentale Gesundheit des Apothekenpersonals zu stärken.