Profitiert die Pharmabranche von mehr Produktion in der EU? |
Jennifer Evans |
11.08.2021 14:30 Uhr |
Eine Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland oder in andere EU-Mitgliedstaaten hätte der ifo-Studie zufolge negative Folgen für die deutsche Wirtschaftskraft. / Foto: Adobe Stock/tomertu
Grenzschließungen, Lockdowns oder Verzögerung in Häfen haben seit Anfang der Pandemie zu vielen Problemen bei den internationalen Lieferketten geführt. Auch die Pharmabranche hat das zu spüren bekommen. Der Ruf, die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln wieder stärker nach Europa zurückzuholen, war in den vergangenen anderthalb Jahren vonseiten der Politik und Industrie besonders laut. Zwar hatte die Bundesrepublik das Thema während ihrer EU-Ratspräsidentschaft bereits auf die europäische Bühne gehoben und die EU-Kommission startete kurz darauf einen europäischen Pharmadialog, dennoch halten offenbar viele Betriebe an ihren globalen Strukturen fest.
Von den 5000 befragten Unternehmen will laut den Ergebnissen des Ifo-Instituts, dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, nur jedes zehnte künftig stärker auf nationale Lieferketten setzen. »Viele Firmen planen stattdessen, ihre Lagerhaltung auszubauen und die Anzahl ihrer Zulieferer zu erhöhen«, so Professor Lisandra Flach, Leiterin des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft. In der Industrie haben demnach 44 Prozent der befragten Firmen vor, ihre Beschaffung zu ändern. Beim Großhandel liegt der Wert bei 35 Prozent, im Einzelhandel sind es 27 Prozent. Und im Dienstleistungssektor planen lediglich 10 Prozent künftig eine neue Strategie.
Flach zufolge hat die Untersuchung ebenfalls ergeben, dass mit einer Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland, dem sogenannten Reshoring, die reale Wirtschaftsleistung Deutschlands um fast 10 Prozent zurückgehen könnte. Dasselbe gelte für das sogenannte Nearshoring, wenn also europäische Nachbarn die Produktion übernehmen. In diesem Fall würde die Wirtschaftsleistung hierzulande um 4,2 Prozent sinken. »Gesamtwirtschaftlich gibt es keinen ökonomisch sinnvollen und erklärbaren Grund, weshalb Deutschland Produktionsprozesse zurück ins Inland holen sollte«, heißt es in der Studie. Auch das Ziel, mit Reshoring oder Nearshoring die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und Arbeitsplätze zu schaffen, sei nicht erreichbar.
Insbesondere die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie würde wegen ihrer starken Abhängigkeiten der Rückzug anderer Länder aus globalen Wertschöpfungsketten besonders hart treffen. Als Beispiel verweist die Studie auf Lactame, die ein wichtiger Rohstoff etwa bei der Arzneimittelproduktion sind. Auch in puncto Antibiotika ist Deutschland abhängig vom Ausland, vor allem von der Schweiz.
Für zielführender halten es die Studienautoren, eine Diversifikation der Zulieferer voranzutreiben. »So könnte man Risiken streuen und schneller auf regionale Schocks reagieren.« Darüber hinaus könnten Unternehmen die Kostenvorteile der internationalen Arbeitsteilung nutzen. Speziell im Arzneimittelsektor raten sie zu einer solchen Diversifizierung.
Grundsätzlich empfehlen die Autoren der Politik: »Statt nach einem Rückzug aus der Globalisierung zu rufen und diesen zu fördern, sollte die Politik verlässliche außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen für Unternehmen schaffen.« Auch könnte der Staat die Firmen mithilfe digitaler Technologien bei der Überwachung risikoreicher Lieferketten unterstützen. Für den Informationsaustausch in diesem Bereich erachten die Autoren eine »nationale Dialogplattform« für sinnvoll. Und als »eine kostengünstige Alternative zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit von kritischen Gütern«, zu den auch die Arzneimittel zählen, regen sie den Aufbau von Reserven an.
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