Gemeinwohl wiegt schwerer |
27.01.2003 00:00 Uhr |
von Daniel Rücker, Eschborn
Das Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) bleibt vorerst gültig. Das Bundesverfassungsgericht hat die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das In-Kraft-Treten des Gesetzes mit Beschlüssen vom 14. und 15. Januar abgelehnt. Apotheker, Zahntechniker und der Stuttgarter Großhändler Gehe hatten beantragt, das Gesetz einstweilen außer Vollzug zu setzen, bis das Gericht Entscheidungen in den jeweiligen Hauptsachverfahren getroffen hat.
Würde das BSSichG außer Kraft gesetzt und erweise sich später als verfassungsgemäß, entstünden schwere Nachteile für das Gemeinwohl, so die Karlsruher Richter. Der Gesetzlichen Krankenversicherung würden 350 Millionen Euro fehlen, die weitere Erhöhungen des Beitragssatzes nach sich zögen. Ergehe die Anordnung nicht, obwohl das Gesetz verfassungswidrig sei, entstünden weder dem Gemeinwohl noch den Antragstellern und den Apotheken insgesamt schwere Nachteile.
Das Verfassungsgericht billigt Apothekern und Zahntechnikern zwar zu, dass das Gesetz ihnen „nicht unerhebliche“ finanzielle Einbußen bringe, eine generelle Gefährdung der beruflichen Existenz sei jedoch nicht zu erkennen. Die vorgelegten Zahlen über die Umsatz- und Gewinnerwartungen ließen nicht erkennen, dass der bereits geltende sechsprozentige Apothekenabschlag im vergangenen Jahr nicht zu verkraften gewesen wäre.
Die neuen Belastungen beträfen nur hochpreisige Medikamente ab 54,81 Euro. Hierdurch gingen die Erlöse in diesem Segment um bis zu 50 Prozent zurück. Da die eingereichten Unterlagen keine Angaben zum Anteil dieser Arzneimittel am GKV-Gesamtumsatz der Apotheken enthielten, fehlten aussagekräftige Daten über das Ausmaß der durch das Gesetz veranlassten finanziellen Einbußen. Da der Anteil von hochpreisigen Arzneimitteln am Umsatz sich von Apotheke zu Apotheke deutlich unterscheiden könne, ließen pauschale Durchschnittsberechnungen keine Rückschlüsse zu. Zudem seien die Zuschläge der Arzneimittelpreisverordnung bei teuren Medikamenten so bemessen, dass den Apothekern immer noch eine „nicht unerhebliche Handelsspanne“ bleibe.
Auch die Abwälzung der Großhandelsrabatte auf die Apotheker beeindruckte die Karlsruher Richter nicht. Das BSSichG sei nicht darauf ausgelegt, dass die Großhändler so verfahren würden, heißt es in der Urteilsbegründung. Zwar hätten die Unternehmen angekündigt, ihre Zwangsrabatte mit dem jeweils gewährten Rabatten an die Apotheken zu verrechnen, wie stark sich dies auf die Erlöse der Apotheken auswirken werde, sei noch nicht abzusehen.
Schließungen wahrscheinlich
Das Gericht räumt ein, dass wahrscheinlich Apotheken als Folge des Gesetzes schließen werden müssen. Daraus lasse sich aber kein Schaden für die Bevölkerung ableiten, da die flächendeckende Versorgung nicht gefährdet sei. Schließlich habe sich in Westdeutschland die Apothekendichte seit 1970 von 18 pro 100.000 Einwohnern auf heute 33 fast verdoppelt. Auch eine allgemeine Gefährdung des Berufsstandes sei nicht zu erkennen.
Auch beim Antrag des Pharmagroßhändlers Gehe kann das Gericht keinen „endgültigen und auf Dauer nicht ausgleichbaren Schaden“ erkennen. Seine finanziellen Einbußen seien auch deshalb gering, weil er wie angekündigt die Zwangsrabatte auf die Apotheker abwälzen wolle. Weitaus schwerwiegender wären die Folgen für das Gemeinwohl, wenn das Gesetz außer Kraft gesetzt würde, sich aber später als verfassungsgemäß erweise. Der GKV entgingen 600.000 Millionen Euro. Dieser Verlust wäre nur mit Beitragssatzerhöhungen zu kompensieren.
Das Gericht hob hervor, dass die abschließende Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden nach wie vor offen sei. Über Anträge auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung werde allein auf Grund einer Folgenabwägung entschieden.
Noch nicht entschieden hat das Gericht über eine - ebenfalls mit einem Eilantrag verbundene - Normenkontrollklage Baden-Württembergs gegen das Gesetz. Nach Ansicht des unionsgeführten Landes hätten die Regelungen von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) der Zustimmung des Bundesrates bedurft. Eine Sprecherin des Gerichts konnte nicht sagen, wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist. Bisher sei noch ungeklärt, welcher der beiden Karlsruher Senate dafür zuständig sei. Auch das Saarland will sich der Klage anschließen.
Verheerende Auswirkungen
Der Vorsitzende des Landesapothekerverbandes Baden-Württemberg, Fritz Becker, bezeichnete die Entscheidung des Verfassungsgericht als „nicht nachvollziehbar“. Er kündigte an, die Apotheker würden sich jetzt mit ganzer Kraft auf das Hauptsacheverfahren konzentrieren.
Der brandenburgische Apothekerverband hat die Ablehnung von Eilanträgen gegen das rot-grüne Gesundheitsgesetz durch das Bundesverfassungsgericht kritisiert. Die Entscheidung sei verheerend für die Apotheken im Lande, sagte Geschäftsführer Michael Klauß am Freitag. Auf die Apotheken in Brandenburg komme nach seinen Angaben Einkommensverluste von rund einer Milliarde Euro zu, wenn das Gesetz in Kraft bleibe. Das seien 45.300 Euro je Apotheke. Der Verband werde es nicht kampflos hinnehmen, dass das in Deutschland gut funktionierende Arzneimittelversorgungssystem „in Schutt und Asche“ gelegt werde.
Gehe gibt nicht auf
Gehe hat die Ablehnung des Eilantrags auf einstweilige Anordnung mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig kündigte der Großhändler an, weiter gegen das Gesetz zu kämpfen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, ein für die Regierung und die Sozialkassen vordergründig wichtiges Gesetz nicht zu stoppen, sei zwar verständlich, ändere an dessen gravierenden Folgen aber nichts, heißt es in einer Stellungnahme. Mehrere Tausend Arbeitsplätze blieben nun akut gefährdet.
„Wir bedauern die Ablehnung unseres Antrages. Bis zur Entscheidung über unsere Verfassungsbeschwerde bleibt nun ein Gesetz in Kraft, dass im Schnellverfahren durch den Gesetzgebungsprozess gepeitscht wurde“, kommentierte Wolfgang Mähr, Vorsitzender der Geschäftsführung, die Entscheidung. Sein Unternehmen wolle weiter für die inhabergeführte Apotheke in Deutschland und den Erhalt der vorbildlichen Arzneimittelversorgung kämpfen. Gehe sehe immer noch gute Erfolgschancen für die Verfassungsbeschwerde, die in Karlsruhe weiterhin anhängig ist.
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