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Das Konsens-Fiasko

12.01.2004  00:00 Uhr
Gesundheitsreform

Das Konsens-Fiasko

von Thomas Bellartz, Berlin

Ulla Schmidt (SPD) mag gar nicht mehr hinschauen. Und auch nicht hinhören. Überall donnert ihr derzeit massive Kritik an der Gesundheitsreform entgegen. An vielen Ecken und Enden muss nachgebessert. Und von Beitragssatzsenkungen auf weiter Flur ist nichts in Sicht. Übrigens genauso wenig wie von Horst Seehofer (CSU).

Zuzahlungen und Praxisgebühr geraten für Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) zum politischen Fiasko. Auch wenn viele Patientinnen und Patienten in den ersten Januartagen zwar mürrisch, aber mehr oder weniger brav ihre Praxisgebühr entrichteten, zeichnet sich das Chaos nun in seiner vollen Breite ab. Schmidt wird von einer Welle der öffentlichen Entrüstung erfasst. Spätestens, seit sich die "Bild-Zeitung" nicht nur der Ministerin, sondern auch den Auswirkungen der Reform täglich annimmt, kommt Schmidt nicht mehr zur Ruhe, zumal die versprochenen Beitragssenkungen in weite Ferne gerückt sind.

Noch in der vergangenen Woche hatte es aus dem Ministerium beruhigend geheißen, man werde alle auftretenden Schwierigkeiten in kürzester Zeit beseitigen. Doch diese Beruhigung der Medien versandete ebenso wie der Versuch, den Leistungsanbietern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die hätten schließlich schon seit Monaten alles vorbereiten können, versuchte das Ministerium den Schwarzen Peter an Ärzte und Kassen weiterzureichen. Doch die weisen alle Schuld von sich und sehen sich auf einer Stufe mit den Patientinnen und Patienten.

Handwerklich miserabel

Schmidts Ministerium wird rundweg die Schuld daran gegeben, dass die bereits vor Monaten beschlossene Reform handwerklich miserabel vorbereitet wurde und entsprechend desolat startete. Schmidt selbst wird zwar nicht müde, auf allerlei Pressekonferenzen und in Interviews Beruhigungspillen unters Volk zu bringen. Gelingen will das aber nicht so recht. Denn die Kommentare werden fordernder wie auch boshafter.

Nur von ihrer neuen Patientenbeauftragen Helga Kühn-Mengel (SPD) bekommt die Aachenerin Rückendeckung. Die bisherige gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion wies die Kritik an der Reform zurück. Diese sei „nicht mit heißer Nadel gestrickt“. Die Reform sei ein „mühsam zu Stande gekommener Kompromiss. Wir sind jetzt dabei, die Anfangsschwierigkeiten, die es gibt, auch auszugleichen“, sagte die Sozialdemokratin im Radio.

Ansonsten halten sich sogar die Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Fraktion zurück. Schließlich waren die Regelungen zur Zuzahlung und die Praxisgebühr auch in den eigenen Reihen nicht unumstritten. Bei den Grünen will man sich nicht so recht äußern. Sogar im Ministerium ist der eine oder andere verärgert, dass sich das Konsensgesetz als Falle für die Beamten entpuppt.

Kritik vom Konsenspartner

Und auch aus der Union gibt es – eher überraschend – heftige Kritik. Der nordrhein-westfälische CDU-Chef Jürgen Rüttgers bellt aus Schmidts Heimatland gen Berlin. Die Ministerin müsse das Gesetz korrigieren und über Konsequenzen nachdenken. In der Union regt sich zwar gemeinhin Unmut über die mangelhafte Umsetzung des gemeinsam von SPD, Grünen und CDU/CSU beschlossenen Reformpakets. Doch man wolle „bloß nicht alles aufschnüren“, heißt es aus den Reihen der Gesundheitspolitiker. Allerdings wollen sich einige aus der Bundestagsfraktion nicht öffentlich die Finger verbrennen.

Einseitige Änderungen an der gemeinsam beschlossenen Gesundheitsreform will die Union aber nicht zulassen. Der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Storm, ließ in der "Bild-Zeitung" vernehmen, es bestehe die Gefahr, dass die Reform „zu sehr verwässert wird“. Er kritisierte vor allem die Pläne der Ministerin, Frauen die Praxisgebühr von 10 Euro zu erlassen, wenn sie nur ein Folgerezept für die Anti-Baby-Pille beim Arzt abholen. Das sei „ein Vorschlag von Gesundheitsministerin Schmidt“. In diesem Punkt sei „das letzte Wort mit der Union noch nicht gesprochen“. Storm: „Wenn man in diesem Punkt bei der Praxisgebühr eine Ausnahme zulässt, ist weiteren Ausnahmen Tür und Tor geöffnet.“

Peinliche Besserstellung

Eine schnelle Änderung verlangte Storm hingegen bei der Praxisgebühr-Regelung für Beamte, Abgeordnete und Minister, die im Jahr einmalig 20 Euro beim Arztbesuch zahlen sollen, statt bis zu 40 Euro wie Kassenpatienten. „Ich halte diese Regelung für einen Fehler“, sagte der CDU-Gesundheitsexperte. Die Reform werde nur akzeptiert, „wenn die Lasten fair verteilt“ seien. „Deshalb sollten auch Beamte und Abgeordnete 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal bezahlen, das heißt, entsprechend weniger Geld von der Beihilfe erstattet bekommen.“ Unterstützung fand dieser Vorschlag in allen Fraktionen des Bundestags und auch beim Deutschen Beamten-Bund. Für die CSU sagte der gesundheitspolitische Sprecher Wolfgang Zöller, dass diese Regelung dringend geändert werden müsse.

Schmidt sagte den Patienten am Montag bei einem Interview der „Tagesthemen“, aber auch noch einmal im Vorfeld der ersten Sitzung des Gemeinsamen Bundesausschusses zu, dass sie durch Schwierigkeiten bei der Einführung von Praxisgebühr und Zuzahlungsregeln keine zusätzlichen finanziellen Nachteile erleiden sollen. „Wer chronisch krank ist, oder für eine Krankenfahrt bezahlt hat, für die er nicht zahlen musste, der wird dieses Geld auch von der Krankenkasse erstattet bekommen“, sagte Schmidt am Montagabend.

Doch ganz so einfach wird sich die Ministerin das nicht machen können. Denn die Richtlinien werden nicht nur von ihrem Ministerium, sondern eben auch von den Krankenkassen und einer Vielzahl von Gremien definiert.

Bundesausschuss definiert

Der neue Gemeinsame Bundesausschusses von Ärzten, Krankenkassen und Patientenvertretern erwartet eine rasche Einigung über den Umgang mit chronischen Krankheiten nach der Gesundheitsreform. Man hoffe, noch im Laufe des Januars einen Konsens zu finden, sagte der neu gewählte Vorsitzende des Gremiums, Rainer Hess, am Dienstag in Berlin. Hess war zuvor lange Jahre in Diensten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), zuletzt als deren Hauptgeschäftsführer mitunter ein hartnäckiger Widersacher von Schmidts Gesundheitspolitik.

Am Rande der Sitzung betonten die Teilnehmer, dass es sehr schwierig werde, rechtlich tragbare Kriterien für die Definition chronischer Krankheiten zu finden. Die Frage ist vor allem deshalb umstritten, weil die seit dem 1. Januar 2004 geltende Gesundheitsreform für chronisch Kranke eine geringere Belastungsgrenze von einem statt 2 Prozent des Bruttoeinkommens bei Zuzahlungen vorsehe.

Schmidt sagte nach der Gründung des Ausschusses, sie hoffe, dass damit die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen vorangebracht werden könne. In dem Gremium finden sich nicht nur niedergelassene Ärzte und Krankenkassen, sondern auch Klinikärzte, Zahnmediziner sowie Vertreter von Patienten und Behinderten. Zu den Aufgaben zählt auch die Festlegung von Leistungen, auf die Versicherte einen Anspruch haben sollen. Apotheker gehören dem Gremium nicht an. Schmidt sagte: „Man muss nicht alles im Gesetz regeln.“ Es gebe „keine Verunsicherung bei den Zuzahlungen. Es gibt Dinge die geregelt werden müssen.“

Schwere Zeit

Für Hess und die übrigen Mitglieder des Ausschusses bricht eine schwere Zeit an. Denn Schmidt war in den vergangenen Tagen bemüht, die Last der öffentlichen Kritik mit der Verweis zu begegnen, das Gremium werden Richtlinien erlassen, und damit sei dann alles geregelt.

Hess: „Immer mehr wird der Bundesausschuss zur Definition des Leitungskatalogs herangezogen.“ Der Erwartungsdruck von Medien und Bevölkerung sei zu hoch.

Unerwartet zurückhaltend gibt sich derzeit der CSU-Sozialexperte Horst Seehofer (CSU). Dabei war der Bayer neben Schmidt federführend am Gesundheitskompromiss beteiligt. Er hatte die Arbeit der Ministerin und des Ministeriums in diesem Zusammenhang sogar gelobt. Von Seehofer war in den vergangenen Tagen zu den jüngsten Problemen nichts zu hören. Das hat auch innerparteiliche Gründe.

Er war bereits im Rahmen der Fraktionsklausur der Christsozialen in Wildbad Kreuth rund um den Dreikönigstag an einem neuen strategischen Weg beteiligt, um die Umsetzung von gesundheitspolitischen Liberalisierungen zu verhindern. Seehofers Parteichef Edmund Stoiber hatte ein neues Steuerkonzept vorgeschlagen und die Debatte um Sozialreformen ausgeblendet. Damit setzt er nicht nur die Schwesterpartei CDU unter Druck. Sollte sich die Union insgesamt auf eine große Steuerreform fokussieren, wäre das Konzept der von Seehofer verhassten Herzog-Kommission vollends ausgeblendet. Denn der dort vorgesehene Umbau des Sozialsystems ist steuerfinanziert. Und wäre damit nach einer Einigung auf eine Steuerreform schlicht obsolet und undurchführbar. Für Seehofer wäre dies innerparteilich ein großer Erfolg.

Unterdessen ließen FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper und der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Dieter Thomae, am Dienstag erklären, die Zuzahlungs-Regelung der rot-grün-schwarzen Gesundheitsreform sei bürokratisch und ungerecht. Thomae: „Es ist unsozial, dass Sozialhilfeempfänger von dem Betrag, den sie zur Sicherung ihres Existenzminimums benötigen, zuzahlen müssen.“ Die Obergrenze von 71 Euro beziehungsweise 35,50 Euro bei chronisch Kranken möge für einen Gutverdienenden gering erscheinen. Für einen pflegebedürftigen alten Menschen im Heim, der das aus seinem Taschengeld bezahlen müsse, sei sie es nicht. Das gelte auch für einen Aids-Kranken, der von der Sozialhilfe leben müsse.

Die FDP fordert die Bundesregierung auf, „dringend Abhilfe zu schaffen. Wir brauchen eine Härtefallregelung.“ Mit einem Antrag werde sich erneut gegen die Zuzahlungspraxis aussprechen.

Kaum Beitragssatzsenkungen

Lediglich 13 Krankenkassen haben bislang der Hoffnung der Ministerin Folge geleistet und ihre Beiträge gesenkt. Allerdings erhöhten im Gegenzug 12 Versicherer ihre Beiträge. Ein Nullsummenspiel also. Und mittlerweile rudert sogar Schmidt selbst zurück. Die erwarteten Beitragssatzsenkungen werde es in diesem Jahr wohl nicht geben, ließ Schmidt verkünden. Top

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