Katerstimmung nach durchfeierter Nacht |
18.08.2003 00:00 Uhr |
Die Erinnerung an schöne Nächte verblasst manchmal schnell. Die traute Einigkeit von Ministerin Ulla Schmidt und CSU-Gesundheitsexperte Horst Seehofer hat einer Katerstimmung Platz gemacht. Die FDP hat sich bereits von der gemeinsamen Reform verabschiedet, die Union schwankt noch.
Auslöser für den neuerlichen Streit zwischen Regierung und Opposition ist der Arbeitsentwurf zur Gesundheitsreform, den das Bundesgesundheitsministerium am Montag vor einer Woche vorgelegt hatte und nach dem Willen der Ministerin den Namen Gesundheitssystemkonsensgesetz (GKG). Doch gerade mit dem Konsens scheint es nicht weit her. Die FDP hat bereits die Konsensrunde verlassen, die CDU ist sich noch unschlüssig, ob sie den Reformentwurf mitträgt. In jedem Fall fordert sie Korrekturen.
CDU-Vorsitzende Angela Merkel wirft Ministerin Schmidt vor, dass Eckpunkte des Konsenses etwa beim Zahnersatz nicht wie vereinbart umgesetzt worden seien. „Da muss nachgebessert werden. Darauf werden wir bestehen.“
Unstimmigkeiten gibt es auch beim Mehrbesitz für Apotheker. Das Thema war in den Konsensgesprächen bis zuletzt ein Streitpunkt. Erst unter Einschaltung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Merkel und Vize-Kanzler Joschka Fischer konnte der Konflikt entschärft werden. Die Union stimmte der Liberalisierung der Arzneimitteldistribution nur in engen Grenzen zu. Entsprechend der Regelung in § 16 Apothekengesetz wollte sie den Apothekern in Zukunft erlauben, zur Aufrechterhaltung der flächendeckende Versorgung bis zu drei Zweigapotheken betreiben zu dürfen. Bislang durften Apotheker höchstens eine Zweigapotheke besitzen.
Zweigstelle oder Nebenstelle?
Im GKG liest sich das dann völlig anders. Statt von Zweigstellen ist hier von Nebenstellen die Rede, die ausdrücklich gegen Zweigstellen abgegrenzt werden. Bei der Genehmigung der Nebenstellen spielt im Entwurf die allgemeine Versorgungslage der Region keine Rolle. Dieser folgt damit der Linie der Grünen und von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die mit großem Eifer die Zulassung des Mehrbesitzes verfolgen. Die Verhandlungsführer der Union fühlen sich hintergangen.
Allerdings mehren sich auch in der Opposition die Stimmen, die eine liberalere Lösung des Mehrbesitzes fordern. So fordern ausgerechnet die Mitglieder der Herzog-Kommission, die für die CDU Konzepte für die Fortentwicklung der Sozialsysteme erarbeiten sollen, die völlige Freigabe des Mehrbesitzes. Auch bei der kleinen Oppositionspartei verstärkt sich die Kritik an den eigenen Unterhändlern. Nachdem bereits Otto Graf Lambsdorff sein Unverständnis für das Nein der FDP zum Mehrbesitz ausgedrückt hatte, folgte zu Beginn der Woche der stellvertretende FDP-Vorsitzende Andreas Pinkwart. Auch er hält die Strategie seiner Partei für falsch und verlangt, den Versandhandel mit Medikamenten zu erlauben und Apothekern die Möglichkeit zu geben, Filialen zu eröffnen.
Auf der anderen Seite lassen auch die Grünen nicht locker. Sie wollen sich „definitiv nicht“ mit dem kürzlich ausgehandelten Kompromiss zur Gesundheitsreform zufrieden geben und setzen sich für weitere Änderungen ein. Die Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt bekräftigte ihre Forderung, das Mehrbesitzverbot komplett aufzuheben. Es könne nicht sein, nur „über drei Apotheken mehr zu sprechen und nicht zu sagen: Das öffnen wir völlig“. Innerhalb der Grünen gibt es sogar Tendenzen, auch den Fremdbesitz zuzulassen.
Währenddessen arbeitet die ABDA-Spitze weiterhin fieberhaft daran, die wohl kaum noch zu verhindernde Aufhebung des Mehrbesitzverbotes für die Apotheker im Gesetz so zu gestalten, dass bundesweite Kettenbildung und Fremdbesitz ausgeschlossen bleiben. In einem Gesprächsmarathon machen Haupt- und Ehrenamtler den Politikern aller Parteien klar, dass das Gesetz in jedem Fall soweit sattelfest sein muss, dass es auch vor den Gerichten bestand hat. Die Gefahr, dass die Begrenzung auf drei Nebenstellen oder gar das Fremdbesitzverbot auf dem Klageweg fallen, muss minimiert werden.
Streit um Zahnersatz
Für Apotheker ist der Mehrbesitz einer der zentralen Punkte in der Gesundheitsreform, im Streit der Parteien ist er lediglich ein Nebenkriegsschauplatz. Weitaus heftiger als der Streit um Apothekenketten ist der um Zahnersatz und Krankengeld. Regierung und Opposition hatten ursprünglich vereinbart, dass von 2005 an der Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung ausgegliedert werden soll. Kassenpatienten sollen dann entscheiden, ob sie Zahnersatz ohne Arbeitgeberzuschuss privat oder gesetzlich absichern. Auch sollte dem Konsenspapier zufolge von 2007 an das Krankengeld allein von Arbeitnehmern finanziert werden.
Der mit Ministerin Ulla Schmidt (SPD) noch nicht abgestimmte Entwurf sieht schon ab 2004 einen Sonderbeitrag der Versicherten in Höhe von 0,8 Beitragspunkten vor. Mitglieder, die ihren Zahnersatz bei einer privaten Versicherung absichern, können diesen Beitrag auf 0,5 Punkte senken. Die Privaten müssten dem Plan zufolge jeden Interessenten aufnehmen und sollen zu einem brancheneinheitlichen Standardtarif verpflichtet werden.
Aus Sicht des FDP-Gesundheitspolitikers Dr. Dieter Thomae sind die im Konsenspapier vereinbarte Ausgliederung des Zahnersatzes und der „faire Wettbewerb“ zwischen Gesetzlichen und Privaten so nicht mehr erfüllt. Nach den Worten Merkels ist es erstaunlich, mit welcher Ignoranz Schmidt vorgegangen sei. „Da müssen alle Ohren und Augen in der Verhandlungsnacht zugesperrt gewesen seien“, sagte die CDU-Chefin.
Auch bei der Positivliste gibt es Differenzen. In den Konsensgesprächen hatten sich Regierung und Opposition darauf geeinigt, die Positivliste für Arzneimittel ein weiteres Mal vor ihrer Einführung zu beerdigen. Im GKG-Entwurf fehlt allerdings eine entsprechende Passage.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt spielt den Konflikt herunter. Im Streit um eine gemeinsame Gesundheitsreform hat die Bundesregierung Blockadedrohungen der Union als „unverständlich“ zurückgewiesen. Bei den Plänen des Gesundheitsministeriums handele es sich um einen Arbeitsentwurf, der nun mit Vertretern der Fraktionen und der Länder abgestimmt und auch der Ressortleitung vorgelegt werde, sagte eine Ministeriumssprecherin in Berlin. „Wir befinden uns in ständigem Dialog mit allen Beteiligten.“ Sie kündigte an, den Konsens so wie mit Union, Grünen und FDP vereinbart umzusetzen. In der kommenden Woche werde der endgültige GKG-Entwurf vorgestellt.
Angst vor dem Nein
Die Union befindet sich jetzt in einer Zwickmühle. Nach der Präsentation der Eckpunkte haben es SPD, Grüne und Gewerkschaften meisterhaft verstanden, CDU, CSU und FDP als Besitzstandswahrer für die Lobbyisten im Gesundheitswesen darzustellen. Dem bürgerlich-konservativem Lager sei es zuzuschreiben, dass die Patienten immer mehr zuzahlen müssen, die Leistungsanbieter aber geschont würden. Auch wenn der Wahrheitsgehalt der Botschaft gering ist, ihre Wirkung verfehlte sie nicht.
Zwar regt sich in der Union massiver Unmut, bis hin zur Blockade. Doch wirklich scheitern lassen, will die Union die Reform wohl nicht. Zu groß wäre die Gefahr am Ende als Blockieren und Bewahrer alter Besitzstände dazustehen. Den vereinzelten Blockade-Androhungen folgten deshalb umgehend Angebote zu weiteren Gesprächen.
Die FDP tut sich mit der Situation offenbar leichter. Bereits am Montag stiegen die Freidemokraten aus der Reform aus. Die Verhandlungsführer von CDU/CSU und SPD seien zu keiner grundsätzlichen Strukturreform bereit, sondern hätten sich wieder einmal allein auf Kostendämpfung verlegt, so die Begründung der Partei. Verärgert hat die FDP vor allem das Gezerre um Zahnersatz und Krankengeld.
Die Weichen, ob die gemeinsame Reform eine Chance hat, werden in diesen Tagen gestellt. Seit Montag verhandeln die Länder über die strittigen Reformpunkte. Mittwoch und Donnerstag sollten dann Verhandlungen im größeren Kreis stattfinden. Dann wird wohl endgültig feststehen, ob die Union die Reform mitträgt. Entscheidend ist, inwieweit der Entwurf noch den Eckpunkten angepasst wird. Zu Redaktionsschluss lagen noch keine Ergebnisse vor. Es erscheint allerdings unwahrscheinlich, dass das Thema Mehrbesitz im Sinne der CDU-Position geregelt werden wird.
Kommentar: Stellvertreterkrieg Mit missionarischem Eifer kämpfen die Grünen und (angeführt vom Kanzler) einige SPD-Abgeordnete für eine völlige Deregulierung der Arzneimitteldistribution. Mittlerweile sind auch die Mitglieder der Herzog-Kommission und mehrere FDP-Politiker auf den Kurs eingeschwenkt. Sie alle tun so, als hinge Wohl und Wehe des deutschen Gesundheitswesens davon ab, ob es Apothekenketten gibt oder nicht.
Angesichts der marginalen Bedeutung dieser Regelung für die Gesundheitsausgaben, stellt sich die Frage, warum sich diese unselige Allianz der Distributionsliberalisierer gefunden hat. Eine mögliche Erklärung ist die offensichtliche Unfähigkeit der Politiker, die international tätigen Arzneimittelhersteller zu disziplinieren. Gerade sie nehmen in Deutschland vergleichsweise hohe Preise für ihre Produkte. Ihrer ökonomischen Phantasie sind Kostendämpfungsgesetze in der Regel nicht gewachsen.
Da Politiker aber ungern Machtkämpfe verlieren, haben sie sich
stellvertretend für den übermächtigen Gegner ein dankbareres Opfer
gesucht. Apotheker können keine Preise nach Gutdünken festlegen, sie
können auch nicht mit Umzug ins Ausland drohen. Auf sie prasselt
deshalb nun die geballte Entschlossenheit der Politik ein. Die
Macher brechen unter viel Getöse vermeintlich verkrustete Strukturen
auf, schubsen sich damit in der Hitliste der kompromisslosen
Reformierer gegenseitig vom Podest. Dass auf diese Weise
wahrscheinlich kein Geld eingespart wird und ganz sicher die
Qualität nicht besser wird, spielt keine Rolle. Schließlich bestimmt
der Schein das Sein.
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