Pharmazeutische Dienstleistungen auf gutem Weg |
Daniela Hüttemann |
07.05.2021 14:00 Uhr |
AKWL- und ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening und BAK-Vorstandsmitglied Hannes Müller diskutierten mit Moderator Matthias Bongard und den Zuschauern per Chatfunktion über die Zukunft pharmazeutischer Dienstleistungen. / Foto: AKWL/PZ/Screenshot
Fast unvorstellbar: Erst seit 1987 besteht die gesetzliche Pflicht für Apotheker, bei Sicherheitsbedenken zu einem Arzneimittel bei der Abgabe zu beraten. Mehr als 30 Jahre später hebt das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) die Beratung in den Apotheken auf ein neues Niveau: Ab dem 1. Januar 2022 sollen flächendeckend neue pharmazeutische Dienstleistungen angeboten und auch vergütet werden, die nicht mehr an die Abgabe eines Medikaments gekoppelt sind, erläuterte am Mittwochabend Apotheker Hannes Müller, Mitglied sowohl des Vorstands der Apothekerkammer Westfalen-Lippe (AKWL) als auch des geschäftsführenden Vorstands der Bundesapothekerkammer (BAK), beim digitalen und interaktiven Informationsformat AKWL-TV.
»Die Medikation wird immer komplexer und die Arzneiformen und ihre Anwendung immer erklärungsbedürftiger – hierfür sind wir Apotheker genau die richtigen Experten«, so Müller. Pharmazeutische Dienstleistungen sollen zu einer neuen Säule der Versorgung, aber auch zum Standbein der Apotheken vor Ort werden, so AKWL- und ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening. Die gesetzliche Vorgabe sei mit dem VOASG bereits da, nun haben der DAV und der GKV-Spitzenverband bis zum 30. Juni Zeit, die genaue Ausgestaltung zu verhandeln. Kommt es bis dahin zu keiner Einigung, wird eine Schiedsstelle angerufen.
Ab dem 1. Januar 2022 werden dann bestimmte Patientenkollektive, die gesetzlich versichert sind, unabhängig vom Wohnort einen Anspruch auf diese pharmazeutischen Dienstleistungen haben, sowie bereits jetzt zum Beispiel auf den bundeseinheitlichen Medikationsplan bei dauerhafter Einnahme mindestens drei verschreibungspflichtiger Medikamente. Da es sich um einen Kollektivvertrag handelt, müssen dann alle Krankenkassen für die berechtigten Patienten die Kosten übernehmen, umgekehrt müssen aber auch alle Apotheken die ausgehandelten Dienstleistungen anbieten.
»Ich bin fest überzeugt, dass das wirklich jede Apotheke leisten kann«, so Müller. Die ABDA hatte im Februar 2021 in einem Positionspapier grob drei Felder abgesteckt: 1. Die Risiken der Polymedikation vermindern mit Hilfe von Medikationsanalysen, 2. die Therapietreue der Patienten zu fördern, zum Beispiel durch regelmäßige Schulungen und 3. an der Prävention von Volkskrankheiten wie Diabetes mitzuwirken. Krankenkassen könnten zum einen ihre Versicherten darauf hinweisen, wenn sie in Zukunft Anspruch auf eine Medikationsanalyse haben, umgekehrt könnten Apotheker ihre Kunden beim Vorliegen entsprechender Rezepte darauf ansprechen.
Bei Patienten mit komplexer Medikation, verordnet durch verschiedene Fachärzte und den Hausarzt sowie der Selbstmedikation oben drauf, könne nur der Apotheker den Überblick behalten, betont Müller. »Bei uns läuft alles zusammen.« Und Overwiening ergänzt: »Wir entdecken Probleme und liefern Lösungsvorschläge, für die wir bislang das Okay des Arztes brauchen.« Die ABDA-Präsidentin wünscht sich hier mehr Entscheidungskompetenz für die Apotheker, wie dies in anderen Ländern durchaus bereits der Fall ist. »Wir wollen uns die Verantwortung für die Arzneimitteltherapie gemeinsam mit den Ärzten teilen.«
»Selbst wenn ein vollständiger Medikationsplan vorliegt, ob auf Papier oder digital, stellen wir immer wieder fest, dass der Patient seine Arzneimittel nicht so einnimmt, wie es dort steht – darüber müssen wir mit ihm sprechen«, kommt Müller auf den zweiten Bereich, die Förderung der Therapieadhärenz zu sprechen. »Zum Beispiel zeigen manche Arzneimittel am Anfang mehr Nebenwirkungen als die erwünschte Wirkung – hierüber können wir aufklären und den Patienten motivieren, die Therapie fortzuführen.«
Overwiening wirft einen zweiten Aspekt ein. »In der 3A-Studie mit der Universität Bonn und der AOK konnten wir zeigen, dass 60 Prozent der Patienten ihre Arzneimittel nicht richtig anwenden.« Hier könnten Apotheker mit Schulungen, zum Beispiel zur korrekten Anwendung von Asthmasprays, helfen. »Wenn Patienten nicht wissen, wie es richtig geht, weil es ihnen nie jemand gezeigt hat, können sie es auch nicht richtig machen. Das ist eine tolle Chance und eine anspruchsvolle Aufgabe für uns Apothekerinnen und Apotheker.«
Als drittes wollen die Apotheken an der Prävention von Volkskrankheiten stärker mitwirken. »Den größten Bedarf sehen wir bei Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen«, erklärt Müller. »Schätzungsweise zwei Millionen Menschen in Deutschland wissen nicht einmal, dass sie Diabetes haben. Hier könnten wir mit unseren vielen Patientenkontakten einen sehr großen Beitrag leisten, Patienten mit Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen und vor Spätfolgen zu bewahren.«
Nicht jede pharmazeutische Dienstleistung könne sicherlich von heute auf morgen in wirklich jeder Apotheke angeboten werden, aber mit etwas Vorbereitung und Fortbildung könne jeder starten. Zumal Overwiening und Müller hoffen, dass das Angebot kontinuierlich ausgebaut werden kann. »Das könnte die Apothekenlandschaft verändern und auch unsere tägliche Arbeit«, betont Müller. In Zukunft könnten zum Beispiel ein Beratungsraum und ein Terminmanagement unverzichtbar werden, aber auch die Telepharmazie könnte ausgebaut werden, gerade wenn der Arzt auf dem Dorf oder im Stadtteil nicht mehr da ist. »Hier brauchen wir kreative Lösungen«, so Overwiening.
Dass die neuen Angebote bei den Patienten gut ankommen werden, steht für die beiden außer Frage. Denkbar sei zum Beispiel, in nicht allzu ferner Zukunft auch Impfungen in der Apotheke anzubieten. Dies wird in Bezug auf die jährliche Grippeimpfung seit dem letzten Herbst in einem Modellprojekt in derzeit vier Bundesländern bereits erprobt. Gedacht ist es als niederschwelliges und zusätzliches Angebot zu den Impfungen in den Arztpraxen, um die Impfquoten zu erhöhen. Die Zwischenevaluation liegt zwar noch nicht vor, aber erste Berichte von teilnehmenden Apotheken deuten an, dass dieses Ziel erreicht werden kann.
Auch die Covid-19-Impfung in den Apotheken ist laut Overwiening vorstellbar – nicht unmittelbar in den nächsten Wochen und Monaten, dazu sind noch zu viele Fragen offen, unter anderem die gesetzliche Grundlage und die entsprechende Praxisschulung von mehr Apothekern. Wenn jedoch genug Impfstoff kommt und die Arztpraxen auf Volllast laufen, sei eine Unterstützung durch impfende Apotheker denkbar.
»Vielleicht brauchen wir ja auch in Zukunft jeden Herbst zwei Impfungen – eine gegen Grippe und eine gegen Covid-19«, spekuliert Overwiening. »Dann könnte eine gewisse Impfmüdigkeit zurückkehren, die wir mit einem zusätzlichen Angebot in den Apotheken vor Ort adressieren könnten.« Schon jetzt spielten die Apotheken neben ihrer großen Rolle in der Logistik und Mithilfe bei der Rekonstitution und Organisation in den Impfzentren auch bei der Aufklärung zu Nutzen und Risiken und bei der Motivation zur Impfung eine wichtige Rolle.
»Wir haben während dieser Pandemie schon so viel geleistet, waren sehr flexibel und haben mit unserer Kleinteiligkeit über das ganze Land verteilt gezeigt, wie wichtig wir sind«, so Overwiening. Das Rad der neu erworbenen Kompetenzen und Sichtbarkeit sollte man nicht zurückdrehen, sondern im Gegenteil, die Bedeutung der pharmazeutischen Versorgung vor Ort weiter ausbauen und stärken – nicht in Konkurrenz zu den Ärzten, sondern als Entlastung und Ergänzung.