Pharmaindustrie erzielte jahrelang satte Erträge |
Dank Exklusivrechten erzielten Pharmafirmen mit Medikamenten für seltene Erkrankungen in den vergangenen zwanzig Jahren Milliarden-Umsätze. / Foto: Fotolia/Creatix
In der entsprechenden EU-Verordnung ist die Möglichkeit von Exklusivvermarktungsrechten für Orphan Drugs für einen Zeitraum von zehn Jahren geregelt. Der Begriff Orphan, also Waisenkinder, benennt die Tatsache, dass die pharmazeutische Industrie unter normalen Marktbedingungen kaum ein Interesse daran hat, Medikamente für nur wenige Patienten herzustellen. Dass die Mehrheit dieser Medikamente den speziellen Schutzstatus aber gar nicht benötigt hätte und die Pharmakonzerne dementsprechend ungerechtfertigt einen extrem hohen Ertrag erzielten, zeigt die Recherche zweier Journalisten der Organisation für investigativen Journalismus »The Investigative Desk«. Das British Medical Journal (BMJ) hat die Ergebnisse nun veröffentlicht.
Die Pharmaindustrie kann demnach Arzneimittel, die bei seltenen Erkrankungen zum Einsatz kommen, unter bestimmten Voraussetzungen exklusiv vermarkten und verkaufen. Dass die meisten dieser Arzneimittel auch ohne den zusätzlichen Schutz der Verordnung auf den Markt gekommen wären, erklärte die Europäische Kommission in einer kurzen Mitteilung nach der Sitzung des Pharmaceutical Committee am 12. März 2020. Allerdings ist der vollständige Bericht von der Sitzung bislang noch nicht veröffentlicht, die EU-Kommission beschränkte sich bis dato lediglich auf eine kurze Zusammenfassung der Sitzung. Darin steht, dass nur 18 bis 24 von insgesamt 146 (bis zum Jahr 2017) zugelassenen Arzneimitteln unter die Verordnung fallen. Im Umkehrschluss: Mehr als 120 Orphan Drugs wären auch ohne die Exklusivrechte auf den Markt gekommen. Dies begründet die EU-Kommission damit, dass die entsprechenden Medikamente auch in anderen Regionen, zum Beispiel in den USA, vertrieben wurden.
Die beiden niederländischen Journalisten Daan Marselis und Lucien Hordijk haben die weltweiten Verkaufszahlen von 120 der insgesamt 174 Orphan Drugs über die vergangenen zwanzig Jahre untersucht. Allein mehr als 20 Medikamente aus dem Jahr 2019 hatten einen Ertrag von mehr als 1 Milliarde Euro erzielt. Zum Vergleich: 2009 waren es noch drei Arzneimittel, die die Milliardengrenze knackten. Durchschnittlich erzielten die Orphan Drugs pro Jahr knapp 724 Millionen Euro (Stand 2019), kurz nach Einführung der EU-Verordnung waren es noch 133 Millionen Euro. Damit hat sich der durchschnittliche Umsatz verfünffacht. Insbesondere Medikamente, die seltene Krebsformen behandeln, wie das Medikament Revlimid® zeigten sich als sehr lukrativ, berichten die Autoren. Im Jahr 2019 waren die Krebsmedikamente unter den Orphan Drugs mit einem durchschnittlichen Erlös von 1,1 Milliarden Euro doppelt so ertragreich wie die entsprechenden Präparate außerhalb der Sparte.
Der Hintergrund für die EU-Verordnung liegt in der globalen Entwicklung, die vor einigen Jahrzehnten herrschte. Die USA erließ bereits im Jahr 1983, Japan dann zehn Jahre später, 1993, ein Gesetz, das es den Firmen erlaubte, Behandlungen für seltene Erkrankungen zu entwickeln und danach geschützt zu vermarkten. In den 1990-er Jahren befürchteten europäische Gesetzgeber, Investitionsmöglichkeiten in der Pharmaindustrie zu verpassen. Da solche Medikamente oft als nicht rentabel gelten, wollten die Gesetzgeber rechtlich gegensteuern. Die EU folgte also im Jahr 1999 mit einem ähnlichen Gesetzesvorhaben, allerdings mit einer geplanten Dauer der Exklusivrechte von zehn Jahren, im beispielhaften US-Gesetz ist von sieben Jahren die Rede.
Um diese Marktexklusivität zu erhalten, muss das Medikament die Behandlung einer seltenen Erkrankung unterstützen. Die Pharma-Unternehmen können einen entsprechenden Antrag bei der Europäischen Arzneimittelbehörde – EMA stellen und müssen darin beweisen, dass ihr Mittel einen Zusatznutzen zur Vergleichstherapie bietet. Zudem muss der Konzern begründen, ob das Medikament eine lebensbedrohliche Erkrankung, die zu chronischer Invalidität oder Behinderung führen kann, verhindern kann oder eine Krankheit bekämpft, die weniger als fünf Patienten von 10.000 Menschen in der EU betrifft. Letztes gilt als Maßstab für seltene Erkrankungen.
Die EU-Verordnung wird an anderer Stelle aber auch begrüßt. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) beispielsweise schreibt auf seiner Website von einem großen Erfolg der europäischen Orphan Drug-Verordnung. Schließlich sei es politischer und gesellschaftlicher Wille, Menschen mit seltenen Erkrankungen medizinisch zu versorgen.
Auch die Patientenorganisation Europäische Organisation für seltene Krankheiten (EURORDIS) begrüßte damals die Verordnung und spricht von notwendigen Anreizen, damit Forschung und Produktion von Arzneimitteln in diesem Bereich überhaupt stattfinden könnten. EURORDIS nimmt regelmäßig am Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden (COMP) der EMA teil, der die Anträge für Orphan Drugs wissenschaftlich bewertet. Der Ausschuss setzt sich aus Wissenschaftlern aller Mitgliedsstaaten des europäischen Wirtschaftsraums (EEA) sowie Vertretern der Gesundheitsberufe und Patientenvertreter zusammen.
In Deutschland leiden laut vfa rund 4 Millionen Menschen an einer von ungefähr 8000 seltenen Erkrankungen. Die meisten dieser gehen auf genetische Ursachen zurück. Der Anteil von Orphan Drugs an den Gesamtausgaben für Arzneimittel der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr 2018 lag bei 4 Prozent, so vfa.