Von Al-harsuf und Strobeldorn bis Cynara scolymus |
27.01.2003 00:00 Uhr |
Arzneipflanze des Jahres
von Brigitte M. Gensthaler, München
Leckerbissen für Wohlhabende, Arznei für Magenleidende und Kunstobjekt in Portugal: Die Artischocke begleitet die Menschen seit Jahrtausenden. Jetzt hat sie der Studienkreis zur Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde zur Arzneipflanze des Jahres 2003 gekürt.
Die genaue Heimat der Asteracee Cynara scolymus Linné ist nicht bekannt. Doch schon der römische Gelehrte Plinius der Ältere (gestorben 79 nach Christus) lobt Cynara als Delikatesse. Zu Lebzeiten Karls des Großen wird sie bereits als Arzneipflanze erwähnt. Dann herrscht für etwa ein halbes Jahrtausend Funkstille. Erst die Araber machen sie im südlichen Europa wieder bekannt und geben ihr den Namen. Das arabische „al-harsuf“ heißt soviel wie „distelartige Pflanze“ oder „Erddistel“, berichtet der Studienkreis am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg. Im 15. Jahrhundert steht die Artischocke in den reichen Handelsstädten Florenz und Venedig wieder auf dem Speiseplan.
Auch als Arznei wird die Verwandte der Distel eingesetzt. Berühmte Kräuterbuchautoren wie Leonhart Fuchs und Adam Lonitzer führen sie als „Strobeldorn“ auf. Der kaiserliche Leibarzt Pietro Andrea Mattioli schreibt Mitte des 16. Jahrhunderts in seinem Kräuterbuch, dass die in Wein gekochte Wurzel der Artischocke zur Behandlung „der verstopften Leber und Nieren zu der Gelbsucht und Wassersucht“ diene.
Cholagog und Lipid senkend
Rund 400 Jahre später hat die Kommission E des früheren Bundesgesundheitsamts etwas andere Vorstellungen vom arzneilichen Einsatz der Artischocke. Ausgangsstoff sind nicht die Wurzeln, sondern die fiederspaltigen Grundblätter der Cynara, die vor dem Schossen, also vor der Knospenbildung, geerntet werden. Diese werden schonend getrocknet und extrahiert oder zu einem Frischpflanzenpresssaft verarbeitet.
Bei Schmerzen im Oberbauch, Völlegefühl, Blähungen und Übelkeit, kurz: bei dyspeptischen Beschwerden, sollen die Droge und ihre Zubereitungen Linderung bringen. Als mittlere Tagesdosis gibt die Kommission in der Monographie 6 g Droge an, wobei sie die Kombination mit anderen pflanzlichen Cholagoga für sinnvoll hält. Die Zubereitungen aus der Droge können zudem einem Rezidiv bei Gallensteinleiden vorbeugen.
Neben der Gallenfluss fördernden wurde auch eine Lipid senkende Wirkung beobachtet. Das Gesamtcholesterol soll um 10 bis 15 Prozent sinken. In der Volksmedizin werden Artischockenzubereitungen ferner zur Unterstützung der Verdauung und als Leberschutzmittel eingesetzt.
Anbau in Deutschland
Artischockenextrakt schmeckt bitter. Das weiß jeder, der als Aperitif oder Digestif schon einmal einen „Cynar“ getrunken hat. Der Geschmack geht zurück auf Bitterstoffe vom Sesquiterpenlakton-Typ wie Cynaropikrin und auf Caffeoylchinasäure-Derivate wie Cynarin. Weitere Inhaltsstoffe sind Flavonoide, Inulin, Monosaccharide und Proteine. Daneben ist die Artischocke reich an Vitamin B1 und C, dem Provitamin A sowie den Mineralien Eisen, Calcium und Magnesium.
Für den pharmazeutischen Gebrauch werden Sorten angebaut, bei denen die Phase des Blattrosetten-Wachstums lange andauert und die einen hohen Inhaltsstoffgehalt haben. Zwei- bis dreimal jährlich können die Blätter geerntet werden. Hauptanbaugebiete in Deutschland sind Thüringen, Franken und Brandenburg und in Frankreich die Bretagne.
Der Genießer interessiert sich dagegen für die schuppenartigen
fleischigen Hüllblätter der Blüten und den Boden des Blütenstands. Gekocht
und mit Vinaigrette ausgelutscht, gelten sie als Delikatesse. Sehr junge
und kleine Blüten werden als „Artischockenherzen“ verzehrt. Den Wert der
Artischocke schätzten schon die portugiesischen Überseesegler und nahmen
sie als Proviant mit. Zusammen mit nautischen Gerätschaften haben Künstler
die dekorativen Blütenknospen als Motiv in der portugiesischen Bauplastik
um 1480 bis 1525 verewigt.
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