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Vom Hörsaal in den Ballsaal

10.05.1999  00:00 Uhr

- Pharmazie Govi-Verlag TAG DER PHARMAZIE

Vom Hörsaal in den Ballsaal

von Elke Wolf, Marburg

In Marburg gehen die Uhren anders. Zumindest für die Pharmazeuten. Die tanzten nämlich nicht Ende April in den Mai, sondern erst vier Tage später. Grund war der zweite Tag der Pharmazie, den der gleichnamige Fachbereich der Philipps-Universität veranstaltet hatte. Tagsüber saßen noch Gäste, viele Studenten und Mitarbeiter des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie und solche aus benachbarten Disziplinen wie der Biologie und der Medizin im Großen Hörsaal im Marbacher Weg 6 und lauschten interessanten Vorträgen, abends schwangen sie dann das Tanzbein in der Marburger Stadthalle beim Ball der Pharmazie.

Das wissenschaftliche Programm war breit gefächert. Nicht nur Fachvorträge standen auf der Tagesordnung, es berichteten auch Pharmaziestudenten und -praktikanten über ihre Auslandserfahrungen in Frankreich und den USA, und zwei hervorragende Dissertationen aus dem letzten Jahr wurden mit je 1000 DM belohnt. Dekanin Professor Dr. Susanne Klumpp konnte Urkunde und Scheck an Dr. Georg Boonen und Dr. Yuan Zhu überreichen. Boonen wies während seiner Doktorarbeit Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen auf molekularer Ebene mit Hilfe der Fluoreszenz-Korrelations-Spektroskopie nach, und Zhu beschäftigte sich mit der endogenen Neuroprotektion, die mit Clenbuterol zu aktivieren ist.

Clenbuterol und sein neuroprotektives Potential

Setzt man an einem isolierten perfundierten Rattenhirn eine definierte Ischämie und löst diese dann wieder auf, normalisiert sich zwar der Energiestoffwechsel gänzlich, aber Neuronen gehen trotzdem zuhauf unter. "Erst sieben Tage nach der Ischämie ist das Maximum abgestorbener Neurone erreicht, haben unsere Untersuchungen ergeben", sagte Professor Dr. Joseph Krieglstein, Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Marburg. Die kurzfristige Störung im Energiestoffwechsel müsse demnach einen pathologischen Prozeß anstoßen. Einer der gängigsten Erklärungsversuche sei die Calcium-Hypothese.

Physiologischerweise lastet ein enormer Calcium-Konzentrationsdruck auf der Zelle, weil die extrazelluläre Calciumionenaktivität um ein Vielfaches höher ist als die intrazelluläre, erklärte Krieglstein. Dem wird die Zelle Herr, indem sie mit hochselektiven Kanälen und Ionenpumpen in der Zellmembran darüber entscheidet, ob Calcium in die Zelle wandert oder nicht. "Geht der Zelle jedoch die Energie aus, so flutscht das Kation in die Zelle und überschwemmt sie regelrecht, weil auch nichts mehr abtransportiert werden kann." Die Zelle werde zwar einige Zeit mit der Calciumschwemme fertig, aber irgendwann vermittle das Kation dann pathologische Effekte. Es aktiviere beispielsweise Lipasen, was die Membranfunktion verschiebe. Durch Hochregulierung der Proteinphosphorylierung änderten sich die Rezeptorfunktionen und die Genexpression. Außerdem seien Proteolyse, freie Radikale und die NO-Synthetase aktiviert.

Um die Auswirkungen einer Ischämie beispielsweise bei einem Schlaganfall möglichst gering zu halten, habe man eine Reihe potentiell neuroprotektiv wirkender Arzneistoffe eingesetzt. Calcium-, NMDA-, Glycin, AMPA-Antagonisten, Adenosin-, Serotonin-1A-Agonsiten, Radikalfänger oder NO-Modulatoren: "Man hat viel testet, aber ein Durchbruch ist nicht gelungen. Die Schlaganfall-Therapie ist nach wie vor krückenhaft", wertete Krieglstein. Hoffnungsfroher stimme da schon das Konzept, endogene Kompensationsfaktoren zur Abwehr der Ischämie zu nutzen und diese mit Pharmaka zu anzukurbeln.

Die sogenannten NGF sind Wachstumsfaktoren mit großer neuroprotektiver Potenz. Zu ihnen gehört beispielsweise der bekannte Läsionsfaktor TGF-beta1. Krieglstein: "Weil dieser bei Läsionen verstärkt ausgeschüttet wird, lag es auf der Hand, diesen unter die Lupe zu nehmen." Als riesige Proteine überwinden Wachstumsfaktoren nicht ohne weiteres die Blut-Hirn-Schranke. Deshalb versuchten Krieglstein und Mitarbeiter, lipophile Arzneistoffe einzuschleusen, die dann die Wachstumsfaktoren induzieren; so geschehen mit Clenbuterol. Krieglsteins Team wies einwandfrei nach, daß die Stimulation von beta2-Rezeptoren in vitro die Expression endogener Faktoren wie antiapoptotischer Gene und Wachstumsfaktoren hochreguliert. Das treibt die NGF-Synthese an, NGF wird hauptsächlich vermehrt aus den Astrozyten ausgeschüttet und reduziert das Infarktvolumen deutlich. Zusätze wie Anti-NGF oder NGF-Antisense-Oligonukleotiden haben die Neuroptrotektion in Kultur unterbunden.

Die sehr guten in-vitro-Ergebnisse ließen sich in vivo allerdings nicht ganz bestätigen, berichtete Krieglstein. Clenbuterol nutzt zwar das körpereigene Kompensationssystem und aktiviert die NGF-, allen voran die TGF-beta1-Ausschüttung. Aber dies erfolge zu langsam und in zu geringem Maße. Wie man das körpereigene System trotzdem nutzt oder ob andere Arzneistoffe neben Clenbuterol bessere Effekte bringen, sei in Zukunft abzuklären.

Altern ohne Alzheimer

Umweltfaktoren als Auslöser der Alzheimerschen Erkrankung sind out. "Alzheimer ist eine Erkrankung der Gene", sagte Professor Dr. Konrad Beyreuther von der Universität Heidelberg. Mit Ausbruch und Progression der Neurodegeneration assoziiere man mittlerweile 40 verschiedene Gene. Dazu gehörten vor allem die Allel-Varianten des Apolipoproteins E (ApoE), dreimal vorhandenes Chromosom 21, verschiedene Mutationen in Presenilin-Genen und im APP-Gen. Chromosom 21 trägt die Erbinformation für APP. Wahrscheinlich entscheidet die jeweils vorliegende Mutation darüber, in welchem Alter die Krankheit ausbricht. So trifft es Menschen mit einer Mutation im APP-Gen rund 50 Jahre früher als die Normalbevölkerung.

Überhaupt ist das Alter eines der Hauptrisikofaktoren für die Erkrankung. Ab dem 65. Lebensjahr steigt die Prävalenz für Morbus Alzheimer fast exponentiell an und verdoppelt sich nahezu alle fünf Jahre. Unter den 80jährigen leiden ungefähr 10 Prozent daran, und unter den 90jährigen haben bereits 40 Prozent die heimtückische degenerative Erkrankung.

Im Gehirn verstorbener Alzheimer-Patienten finden sich abnorme Mengen veränderter Proteine. Intrazellulär sind dafür die Tau-Proteine verantwortlich, extrazellulär A4b-Proteine. Tau-Proteine verlieren bei der Alzheimerschen Erkrankung durch Überphosphorylierung und sekundäre Vernetzung ihre normalen Fähigkeiten, die Mikrotubuli der Nervenzellen zu stabilisieren. Dadurch werde der Transport nach den Ausführungen des Referenten vieler verschiedenartiger Substanzen von einem Zellort zum anderen behindert. Diese Ablagerungen sind derart stabil und fest, daß sie von zelleigenen Enzymsystemen nicht mehr abgebaut werden können. So entstehen neurofibrilläre steife Knäuel, die Tangles. Beyreuther: "Die Ablagerungen werden also zum Transportproblem."

Das A4beta-Protein ist ein Fragment einer höhermolekularen Vorläufersubstanz, dem Amyloid-Precursor-Protein (APP). APP kann auf verschiedenen Wegen verstoffwechselt werden: durch die alpha-, beta- oder gamma-Sekretase. Physiologisch ist der alpha-Sekretase-Weg. Das alpha-Enzym zerschneidet APP genau im A4beta-Abschnitt, so daß dieses keine Aggregate mehr bilden kann. Gendefekte verschieben allerdings die Metabolisierung in Richtung der beta- und g-Sekretase, so daß vermehrt neurotoxisch wirkendes Amyloid-beta-Protein anfällt.

Hinter dem APP steckt eine physiologische Aufgabe. "Wir vermuten, daß APP etwas mit Vergessen, mit Gedächtnis zu tun hat", informierte Beyreuther. Seine Spaltfragmente seien kompetitive Inhibitoren für den Transport verschiedener Substanzen. Falle jedoch verstärkt das Amyloid-beta-Protein als Spaltprodukt an, werde aus dem bloßen Vergessen eben Alzheimer. Beweis, daß das APP-Gen ein Antagonist für Zelladhäsionen ist, erbrachten Beyreuther und sein Team mit der Fruchtfliege Drosophila. Deren Flügel entwickelt sich nur dann normal, wenn zwei Nervenzellschichten extrem gut miteinander kontaktieren. Wird das APP-Gen verstärkt in die Flügel exprimiert, wachsen der Fliege abhängig von der APP-Dosis verkrüppelte Flügel.

Einfluß von Cholesterol, Estrogen und Vitamin E

"Bisher gibt es keine Untersuchung, die den Einfluß von Statinen auf die Alzheimersche Erkrankung untersucht", bedauerte Beyreuther. Hintergrund: Das Apolipoprotein E ist Hauptcholesteroltransporter im menschlichen Gehirn. "Bei Trägern des Apo-E4-Allels stimmt irgendetwas mit dem Cholesterolstoffwechsel nicht. Genaue Zusammenhänge stehen noch aus", sagte Beyreuther. Normalerweise sei der Cholesterolstoffwechsel gut ausbalanciert. Neuronen stellten sofort die Cholesterolsynthese ein, wenn intrazellulär genügend vorhanden ist. Bei Apo-E4-Trägern scheint dagegen Cholesterol zu schnell und unkontrolliert in die Zelle einzuströmen. Die Gabe von Cholesterol-Synthese-Hemmern wie Lovastatin liege auf der Hand. Lovastatin habe in ersten Versuchen die Amyloid-beta-Protein-Produktion in 21 Tagen auf 30 Prozent gedrückt. Allerdings fand der Versuch nicht an humanen Zellen statt.

Auch Estrogene sind in der Lage, die Entstehung des A4beta-Proteins zu hemmen, so Beyreuther. Frauen, die in den Wechseljahren mit Hormonen substituieren, haben ein 1,5fach erniedrigtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken, im Vergleich zu unsubstituierten Frauen. An menschlichen Nervenzellen konnte 17-Hydroxy-Estrogen die Freisetzung des Amyloid-beta-Peptids auf die Hälfte drücken, informierte der Referent. Die eingesetzte Hormonmenge sei mit der identisch gewesen, die Frauen vor den Wechseljahren produzieren.

Auch der Radikalfänger Vitamin E habe erst kürzlich positiv von sich reden gemacht. In einer amerikanischen Multicenter-Studie mit 341 Patienten wurden täglich 2000 I.E (das sind etwas mehr als 1 Gramm pro Tag!) Vitamin E gegeben, also jene Menge, die gerade noch tolerierbar ist und bei der keine Blutungen entstehen. Im Vergleich zu Selegilin, das auch zum Einsatz kam, konnte Vitamin E die Progression der Erkrankung effektiver hinauszögern. Die Kombination von beiden verschlechterte jedoch die Situation.

"Er arbeitet mit Hirn"

25 Jahre Pharmakologie in Marburg bedeuten 25 Jahre Krieglstein. Am 1. April 1974 übernahm er das damals nagelneue Institut für Pharmakologie und Toxikologie in Marburg. "So wie die Pharmakologie die Triebkraft für die Pharmazie ist, ist Professor Krieglstein die Triebfeder für unser Institut", beschrieb Klumpp den unermüdlichen Einsatz des Institutsleiters. Mit seiner Forschungsleistung und seinem Renommée habe er es im letzten Jahr geschafft, 48 Prozent aller Drittmittel einzuwerben. Damit habe er das, was von staatlicher Seite aus Wiesbaden kommt, um das Doppelte übertroffen, so Klumpp.

Dank Krieglstein sei das Institut stark international verflochten und habe weltweite Ausstrahlung. Und das mit nur wenigen Doktoranden. Allerdings haben diese nur extrem kurz promoviert (durchschnittlich 38 Monate) und im Schnitt 4,6 Full-Papers vorzuweisen. Diese Zahlen rückten die Anzahl der Doktoranden in ein anderes Licht, wertete Klumpp. Als kleines Dankeschön überreichte die Dekanin Krieglstein ein spezielles Toxin, um "auch der Toxikologie in diesem Institut Rechnung zu tragen": einen 25 Jahre alten Whiskey. Top

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