Die Zukunft hat ein Gedächtnis |
25.10.1999 00:00 Uhr |
Als kunstreichste Stadt der Welt beschreiben Reiseführer die toskanische Metropole Florenz, Tagungsort des 34. Internationalen Kongresses für Geschichte der Pharmazie. Gemeint ist vor allem die überwältigende Fülle an Bau- und Kunstdenkmälern aus der Zeit der Renaissance, die die Stadt zu bieten hat. Diese kulturelle Blütezeit brachte vor genau 500 Jahren auch einen pharmaziehistorischen Meilenstein hervor, um den sich die Hauptthemen der Tagung rankten: das von manchen Wissenschaftlern als erste Pharmakopoe eingestufte Ricettario Fiorentino von 1498/99. Von der Erstausgabe existieren weltweit noch drei Exemplare.
Die erste Florentiner Pharmakopöe markiert einige wesentliche historische Wendepunkte, allein schon durch den Versuch den zeitgenössischen Arzneischatz zu überprüfen und zu standardisieren. So war es nicht länger jedem Arztes freigestellt, welche Rezepturen er verordnete. Fortan konnte er sich einer im Konsens der angesehensten Ärzte und in Kooperation mit staatlichen Institutionen entstandenen Sammlung als wirksam angesehener Arzneimittel bedienen und Apotheker konnten ihr Warenlager danach ausrichten. In diesem Sinne war die Kompilation des Florentiner Arzneibuchs ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung. Die Anordnung der Arzneibuchmonographien klassifizierte zudem die beschriebenen Arzneistoffe und -mittel.
Florenz mit seinen wohlhabenden Oberschichten, seiner differenzierten Bürokratie und seinen humanistisch gebildeten Ärzten wurde zwischen 15. und 16. Jahrhundert nicht von ungefähr zur Wiege der Arzneibuchliteratur. Das Ricettario Fiorentino wurde von dem in der Stadt ansässigen Arzt Girolamo Toscanelli, wahrscheinlich unter der Ägide des Dominikanermönches Savonarola, über einen Zeitraum von mehreren Jahren zusammengestellt und 1498/99 verbindlich. Damit erschien es fast 50 Jahre vor der ersten deutschen Pharmakopöe, dem Nürnberger Dispensatorium des Valerius Cordus von 1546.
Professor Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Heidelberg, ging in seinem Plenarvortrag auf eine mögliche Einflüsse des Florentiner Werkes auf das Arzneibuchwesen süddeutscher Reischstädte Städte wie Nürnberg, Augsburg, Basel und Straßburg ein. Obwohl sich in deren Pharmakopöen keine textlichen Spuren des Ricettario nachweisen lassen, ist eine gewisse Vorbildfunktion darin zu erkennen, dass der Geist des Humanismus und die beginnende Freizügigkeit des Handels, gerade zwischen Norditalien und Süddeutschland, zur Nachahmung anregten. Die Untersuchung zeigt ferner, dass eine städtische Sozialstruktur, in die auch Apotheker eingebunden waren, das Entstehen einer amtlichen Pharmakopöe begünstigten. Städte mit Pariziatsregierung scheinen demnach ein eigenes Arzneibuch gefordert zu haben, während zunftregierte Städte sich darum weniger bemühten.
Arzneibücher als Quelle Pharmakopöen sind bis zu einem gewissen Grad Abbild der Arzneimitteltherapie ihrer Entstehungszeit. Sie enthalten daher wichtiges Material für die pharmaziehistorische Forschung. Während traditionell vor allem pharmazeutisch-chemische Aspekte ausgewertet wurden, helfen sie auch bei der Untersuchung technologischer Aspekte, betonte Professor Dr. Christoph Friedrich, aus Greifswald. So lässt sich anhand des Nürnberger Arzneibuches von Valerius Cordus der Stand der Galenik des 16. Jahrhunderts aufzeigen. Pillen und Sirupe waren damals die vorherrschenden Arzneiformen.
Aussagekräftig für das 18. Jahrhundert ist vor allem die Württembergische Pharmakopöe von 1741. Aber auch der archivalisch erhaltene Entwurf eines Arzneibuchs für Schwedisch Pommern verrät viel über die technologischen Routinearbeiten in dieser Region um 1770. In neuerer Zeit sind es auch die im Arzneibuch beschriebenen Verfahren, anhand derer sich pharmazeutisch-technologische Veränderungen ablesen lassen. Allerdings greifen die Pharmakopöen neue Entwicklungen gewöhnlich erst mit einer gewissen Verzögerung auf. Erst wenn sich Arzneiformen oder Verfahren allgemein durchgesetzt haben, werden sie offizinell.
Exotischer Drogen Professor Dr. Francois Ledermann, Bern, untersuchte anhand wichtiger Arzneibücher, wie Drogen aus der Neuen Welt Eingang in den europäischen Arzneischatz gefunden haben. Da Forscher zunehmend die Welt bereisten und die Botanik an Bedeutung gewann, wurden exotische Drogen bereits zur Zeit der ersten Pharmakopöen im 16. Jahrhundert offizinell. Nur knapp die Hälfte der Drogen in der Ricettario-Ausgabe von 1550 stammen aus Europa. Noch selten waren Arzneipflanzen aus der "Neuen Welt", eine herausragende Bedeutung nahmen Guajak-Holz und Chinarinde ein.
Im 18. Jahrhundert kommt es zu einem gewissen Bruch zwischen Wissenschaft und Praxis, da der Anteil der Arzneipflanzen aus Übersee in europäischen Arzneibücher trotz des stark zunehmenden botanischen Wissens kaum stieg. Erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert wurden Pharmakopöen wieder zum Spiegel der herrschenden Pharmakognosie ihrer Zeit.
Terminologie Offizinelle Bezeichnungen prägten stets den Fachwortschatz des Apothekers, dessen Entwicklung Professor Dr. Peter Dilg, Marburg, nachzeichnete. Schon die Ausgabe von Ricettario Fiorentino von 1550 forderte von Apothekern Lateinkenntnisse, die sich dadurch von den Handwerksberufen abhoben. Das sich aus verschiedenen Wurzeln entwickelnde pharmazeutische Fachlatein war durch historische Entwicklungen verschiedensten Einflüssen unterworfen: Zum Beispiel mussten neue pharmazeutische Techniken oder synthetische Arzneistoffe benannt werden. Dabei wurde es versäumt, die apothekerliche Fachsprache jeweils konsequent der fortschreitenden Wissenschaft anzupassen. Dadurch etablierten sich für viele Fachbegriffe Synonyme.
Die etwa 450 Kongressteilnehmer aus allen Kontinenten beschäftigten sich in 140 Kurzreferaten und Posterbeiträgen natürlich auch mit dem eigentlichen Gegenstand der Pharmakopöen, den Arzneimitteln. So konnte die Geschichte von Drogen und Zubereitungen aus allen Kulturkreisen erhellt werden. Die nächste internationale pharmaziehistorische Tagung 2001 in Luzern wird Gelegenheit geben, die gewonnenen Erkenntnisse zu vertiefen. Dies geschehe stets mit dem Ziel, aus historischen Erkenntnissen berufliches Selbstverständnis zu erlangen, sich der eigenen Indentität bewusst zu werden und die soziale Rolle des Berufsstandes zu verstehen, wie viele Redner betonten.
Mit dem Bild von Geschichte als "Gedächtnis der Zukunft" führte der Präsident des italienischen Apothekerverbandes, Guiseppe Leopardi, den Anwesenden programmatisch vor Augen, auf welche Stärke sich der Berufsstand gerade in Umbruchzeiten besinnen sollte: auf sein zu keiner Zeit zu leugnendes Wissen zum Wohle eines fundamentalen menschlichen Bedürfnisses, nämlich der Gesundheit.
GASTKOMMENTAR
Die Internationale Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (IGGP) erfüllt seit ihrer in Florenz abgeschlossenen Umstrukturierung die Erwartungen, die ihr Name weckt. Sie fungiert künftig als weltweiter Dachverband nationaler Fachgesellschaften.
Sicher, historische Entwicklungen spielen sich gewöhnlich in ihren spezifischen geographischen Umfeld ab und können daher nur selten verallgemeinert werden. Dennoch sind die wenigsten pharmaziehistorischen Grundfragen im internationalen Kontext befriedigend gelöst. Ein Beispiel ist das Generalthema des Florenzer Kongresses. Die in Deutschland übliche Definition einer Pharmakopöe wurde in den sechziger Jahren aufgestellt und wird - das zeigte die in den Vorträgen zu hörende Terminologie sehr deutlich - international kaum als bindend hingenommen. In diesem Sinne harmonisierend und gestaltend zu wirken, wird eine sicherlich nicht einfache Zukunftsaufgabe der IGGP sein. Nationale Vorstellungen und Entwicklungen sollten im internationalen Konsens münden, um einem ebenfalls in Florenz formulierten Ideal näher zu kommen: der Wissenschaft als dem Wissen von der Wahrheit.
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