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Life Sciences im Molekularmaßstab

Datum 09.10.2000  00:00 Uhr

DPHG-JAHRESTAGUNG

Life Sciences im Molekularmaßstab

von Brigitte M. Gensthaler, Münster

Bilanz 2000: Arzneimittelforschung heute und in der Zukunft. Unter diesem Leitthema bot der Jahreskongress der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft in Münster ein umfassendes Bild von den pharmazeutischen Wissenschaften. Angesiedelt zwischen Life Sciences und patientenorientiertem Wissen sei die Pharmazie heute eine Schlüsseltechnologie, sagte Tagungspräsident Professor Dr. Rüdiger Gröning vor rund 450 Wissenschaftlern in der Westfälischen Wilhelms-Universität.

Der wissenschaftliche Kongress vom 4. bis 7. Oktober bot einige Neuerungen im Programm. Welchen Beitrag leisteten große Forschungsprojekte der letzten Jahre zur Arzneimittelentwicklung? Welche Ideen blieben Vision, welche konnten realisiert werden? Mit "facts or fantasy" setzten sich Professoren der verschiedenen pharmazeutischen Disziplinen kritisch auseinander und zogen Bilanz. Daneben wurden in drei Plenarvorträgen Fächer übergreifende und über die Pharmazie hinausreichende Themen wie Angiogenese-Hemmung, cerebrale Zellkulturen und Wissensmanagement behandelt.

Die Hochschulen konnten erstmals auch ihre langfristigen Projekte vorstellen. 25 Übersichtsposter gaben einen Eindruck von der Bandbreite der Hochschulforschung. In mehr als 240 Postern und Diskussionsvorträgen – die größte Zahl, die es bisher bei einem Jahreskongress gab, wie Gröning stolz anmerkte – stellten Wissenschaftler ihre aktuellen Ergebnisse zur Diskussion. In vier Vorsymposien diskutierten Fach- und Arbeitsgruppen spezielle Themen.

Multidisziplinäre Pharmazie

Insgesamt zeigte die Tagung in Münster ein lebendiges Bild einer multidisziplinären Wissenschaft. Dies sei eines der wichtigsten Anliegen, das die Pharmazie vermitteln kann und in heutiger Zeit auch nachhaltig vermitteln muss, sagte DPhG-Präsident Professor Dr. Theo Dingermann und fand volle Unterstützung bei ABDA-Präsident Hans-Günter Friese. Er sei stolz und dankbar, dass es die traditionsreiche wissenschaftliche Gesellschaft gibt.

Friese wies auf die Vielfalt an Berufsmöglichkeiten hin, die sich nach dem Pharmaziestudium wie bei kaum einem anderen Fach eröffnen. Keiner studiere in die Arbeitslosigkeit hinein, vielmehr würden Apotheker händeringend gebraucht. Auch dafür müsse die Öffentlichkeit sensibilisiert werden. Friese plädierte dafür, die Ausbildungskapazität für Pharmazeuten an den Hochschulen zu erweitern. Dem Ansinnen zur Streichung von Studienplätzen werde man energisch entgegentreten. Die neue Approbationsordnung mit Klinischer Pharmazie, Pharmakoepidemiologie und –ökonomie soll den Apotheker noch besser auf seine Schlüsselfunktion in der modernen Kommunikationsgesellschaft vorbereiten.

Dem Tumor den Saft abdrehen

Ein "ungeheuer brisantes Thema" sprach der erste Plenarredner, Professor Dr. Dieter Marmé, Forschungsdirektor am Tumorbiologischen Zentrum in Freiburg, an. Die Erkenntnisse zur Regulation der Gefäßneubildung in Tumoren könnten die rationale Arzneistoffentwicklung entscheidend beeinflussen.

Tumorzellen brauchen mehr Energie als die meisten anderen Körperzellen, weil sie sich schneller teilen. Den Anschluss an die Blutversorgung schaffen sie selbst, indem sie angiogene Proteine ausschütten und damit benachbarte, das heißt 1 bis 2 mm entfernte Blutgefäße zum Wachstum (Angiogenese) anregen. Gelangen Tumorzellen über diese neuen, fragil gebauten Gefäße in die Zirkulation, können sie an anderer Stelle Metastasen bilden.

Die Tumorangiogenese wird unter anderem vom Wachstumsfaktor VEGF (vascular endothelial growth factor) gesteuert, berichtete Marmé. Der von Krebszellen gebildete VEGF bindet an Rezeptoren auf den Endothelzellen und induziert die Expression weiterer VEGF-Rezeptoren und die Synthese von Wachstumsfaktoren wie Angiopoietin-2. In der Folge bricht die vaskuläre Homöostase zusammen, und die Endothelzellschicht lockert auf.

Aus diesen molekularen Kenntnissen resultiert ein neuer therapeutischer Ansatz: VEGF-Antagonisten und VEGF-Tyrosinkinase-Hemmstoffe könnten die Angiogenese und damit das Tumorwachstum stoppen. Dass lösliche Rezeptoren (VEGF-R2) den Wachstumsfaktor abfangen können, zeigen Versuche mit Mäusen, die mit einem aggressiv wachsenden Nierentumor infiziert wurden. Unter der Behandlung sinkt die Blutgefäßdichte massiv ab.

Intensiv geforscht wird an Tyrosinkinase-Inhibitoren. Die Substanz CGP 79787/ZK 222584, in einem Screening aus 800 000 Stoffen herausgepickt, hemmt in vitro die VEGF-Rezeptor-Tyrosinkinase, die den Rezeptor intrazellulär phosphoryliert und damit das Signal zur Proliferation gibt. Die Substanz greift spezifisch nur in VEGF-vermittelte Prozesse in der Endothelzelle ein. Sie ist relativ wenig toxisch und wird gut vertragen; die maximal tolerable Dosis (akute MTD) liegt über 250 mg/kg Körpergewicht. Überraschenderweise hemmt sie nicht die normale Wundheilung.

Das Prinzip funktioniert in vivo: Bei Mäusen mit Nierenzellkarzinom drosselte die tägliche Gabe von etwa 50 mg/kg massiv die Gefäßdichte und den Blutfluss, reduzierte das Wachstum des aggressiven Tumors und die Metastasierung. "Das ist kein systemischer Effekt, sondern passiert nur im Tumorgewebe", betonte der Referent. In einer Phase-I-Studie mit 25 Patienten, die vorwiegend an kolorektalen Karzinomen litten, erreichten zwölf eine Stabilisierung und drei eine minimalen Response des Tumors. Durch die Stabilisierung gewinne man Zeit für weitere Therapie-Optionen.

Zur Chemie des Stoffes wollte sich Marmé nicht äußern. Gegenüber der PZ erklärte er, dass es sich um ein kleines, nicht-peptidisches, synthetisch zugängliches Molekül handle. Die genaue Struktur sei unbekannt.

Ähnlich gute Ergebnisse wie mit der Angiogenese-Hemmung könnte man mit den verfügbaren Therapeutika erzielen, wenn man das Therapieregime ändert. Marmé prognostizierte eine Revolution in der Tumortherapie. Derzeit werde die MTD eines Zytostatikums zyklisch verabreicht. Dies töte zwar einige Tumorzellen, gebe den überlebenden aber Zeit, sich zu regenerieren und Resistenzen zu entwickeln. Der Tumorspezialist plädiert für eine kontinuierliche Gabe von niedrig dosierten Zytostatika. Doxorubicin in niedriger Dosis reduziere das Volumen von Nierentumoren und Lungenmetastasen. Dies sei auch für in die DNA interkalierende Substanzen und Aromatase-Hemmstoffe gezeigt worden. Weiteres Plus: Die Low-dose-Therapie ist weniger toxisch für den Patienten.

Zellkulturen imitieren die Blut-Hirnschranke

Die Blut-Hirnschranke ist ein äußerst komplexes dynamisches System. Wie man sie in Zellkulturen nachbilden und Transportmechanismen erkennen und quantifizieren kann, erforscht die Arbeitsgruppe um Professor Dr. Hans-Joachim Galla, Direktor des Instituts für Biochemie in Münster. Die Zellkulturen sind pharmakologisch hoch interessant, da man damit den Übertritt von Pharmaka aus dem Blutstrom in Hirngewebe untersuchen kann. Sie sollen Experimente am Tier vermeiden helfen, können diese aber nie ganz ersetzen, sagte Galla.

Mehrere Barrieren stoppen den Zustrom von Substanzen aus dem Blut ins Gehirn. In cerebralen Kapillaren dichten Endothelzellen die Gefäßwand ab, während im Chorioidplexus die Endothelzellschicht durchlässig ist. Hier sorgen aufgelagerte Epithelzellen für die Schranke. In dieser Hirnstruktur, dem Plexus chorioidei, wird die Cerebrospinalflüssigkeit gebildet. Man spricht deshalb von der Blut-Liquor-Schranke.

Mitte der achtziger Jahre begann die Forschung an endothelialen Zellkulturen; erst in den letzten Jahren wird auch das Plexusepithel als Barrieresystem erforscht, berichtete Galla. Ziel ist es, Transportmechanismen, die Arzneistoffe an den Zellen vorbei oder durch die Zellen hindurch schleusen (trans- oder paracellulär), zu verstehen. Dabei müssen biochemische Barrieren und das Multi-drug-resistance-System vieler Zellen beachtet werden.

Die Arbeitsgruppe verwendet cerebrale Kapillarendothelzellen vom Schwein, die nach der Anzucht auf Serum auf ein serumfreies Medium übertragen werden. Das Problem beim In-vitro-Modell: In vivo sind die Endothelzellen bedeckt von Astrozyten-Endfüßchen, die wiederum verbunden sind mit Neuronen. Die Differenzierung der Kapillarendothelzellen hängt stark von Wechselwirkungen mit Astrozyten ab, die direkten physischen Kontakt mit ihnen haben. Perizyten sind ähnlich wichtig. Um die Barriere-Eigenschaften in der Kultur zu induzieren, müssen Co-Kulturen etabliert und/oder Induktionsfaktoren identifiziert werden.

Der Zusatz von Hydrocortison in der Zellkultur kann die Barrierefunktion einschalten. Der Widerstand steigt und die Permeabilität der Zellschicht nimmt deutlich ab, wie durch elektrische Widerstandsmessungen gezeigt wurde. Hydrocortison ändert die Organisation an der Zellmembran, betonte der Experte; es wirkt nicht über eine vermehrte Expression von Tight-junction-Proteinen. Bei den "tight junctions" handelt es sich um punktförmige Verschmelzungen der äußeren Membranschichten zweier benachbarter Zellen, die den Interzellularspalt unterbrechen. An den Zell-zu-Zell-Kontakten sind verschiedene membranständige und cytosolische Proteine beteiligt.

Auch In-vitro-Systeme von Epithelzellen des Plexus choroideus, die über Transportsysteme für Vitamine und Desoxyribonucleoside verfügen, sind inzwischen etabliert, sagte Galla in Münster. Damit bildet man die Blut-Liquor-Schranke nach. Die Zellen sind sowohl morphologisch als auch in der Proteinverteilung polar aufgebaut. Tatsächlich sezernieren sie nur auf einer Seite der Zellschicht (apikale Seite) Cerebrospinalflüssigkeit. Die Plexuszellen bilden eine dichte Barriere.

Diese Zellkultur-Modelle helfen im Verbund mit biochemischen und biophysikalischen Techniken, die Blut-Hirn/Liquor-Schranke und Transportmechanismen zu quantifizieren, zeigte der Referent abschließend am Beispiel einiger Arzneistoffe. Top

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