Natalizumab bei MS und Morbus Crohn |
27.01.2003 00:00 Uhr |
von Wolfgang Kämmerer, Wiesbaden
Natalizumab, ein rekombinanter monoklonaler Antikörper, könnte Entzündungsprozesse bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) und mit Morbus Crohn lindern. Dies ergaben zwei Phase-II-Studien, die kürzlich im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden.
Natalizumab ist ein humanisierter, immunmodulierend wirkender Antikörper, der an Alpha-4-Integrin auf der Oberfläche aktivierter Lymphozyten und Monozyten bindet (siehe Kasten).
Selektine, Integrine und SAM-Inhibitoren Bei lokalen Entzündungen oder Gewebeschäden wandern Leukozyten aus dem Blut in das betroffene Gewebe ein und vermitteln dort die zelluläre Immunabwehr. Voraussetzung für die Migration ist die Adhäsion der Leukozyten am Gefäßendothel mit Hilfe von Adhäsionsmolekülen. Adhäsionsmoleküle sind Proteine und werden in Selektine, Integrine und die Immunglobulin-Superfamilie unterteilt.
Selektine vermitteln den ersten Kontakt zwischen dem weißen Blutkörperchen und dem Endothel. Es kommt zum so genannten „Rolling“, dem langsamen „Rollen“ von Leukozyten entlang der inneren Wand der Blutgefäße. Die Immunzellen heften sich durch die auf ihrer Oberfläche exprimierten Integrine fest an das Gefäßendothel an. Integrine bestehen aus zwei Untereinheiten (alpha und beta), für die es wiederum verschiedene Subtypen gibt. Die Adhäsionsmoleküle der Immunglobulin-Superfamilie spielen beim Hindurchtreten der Leukozyten zwischen den Endothelzellen in den extravaskulären Raum die entscheidende Rolle.
Natalizumab ist der erste Vertreter der selektiven Adhäsionsmolekül (SAM)-Inhibitoren. Diese binden an das Glycoprotein Alpha-4-Integrin auf der Oberfläche von Immunzellen. Vermutlich verhindern sie damit, dass die Zellen die Blutbahn verlassen und in die Entzündungsherde in Magen-Darm-Trakt (Morbus Crohn) beziehungsweise Zentralnervensystem (MS) einwandern, was den Entzündungsprozess verstärken würde.
Weniger Hirnläsionen bei MS
In einer Studie verglichen Forscher der International Natalizumab Multiple Sclerosis Trial Group den Wirkstoff mit Placebo bei Patienten mit rezidivierender MS. In experimentellen Modellen sowie in einer kleineren Studie war bereits gezeigt worden, dass Natalizumab die Entwicklung von Hirnläsionen verhindern kann. In der randomisierten, kontrollierten Doppelblindstudie erhielten 213 MS-Patienten ein halbes Jahr lang alle vier Wochen entweder Natalizumab (3 oder 6 mg/kg Körpergewicht intravenös) oder Placebo (1). Als primärer Endpunkt der Studie wurde die Anzahl neuer Läsionen im Kernspintomogramm (MRT) definiert. Zusätzlich erfassten die Ärzte die Anzahl der Schübe sowie das subjektive Wohlbefinden.
In beiden Verumgruppen nahm die Anzahl neuer Gehirnläsionen gegenüber Placebo erheblich ab (9,6 pro Patient unter Placebo versus 0,7 unter 3 mg Verum und 1,1 unter 6 mg Verum). Die Unterschiede gegenüber Placebo waren hoch signifikant. 27 Patienten in der Placebogruppe erlitten einen Rückfall, in den Verumgruppen waren es 13 (3 mg) und 14 (6 mg). Auch hier war der Unterschied zu Placebo signifikant. Unter Placebo verschlechterte sich das subjektive Wohlbefinden leicht, während es sich in den Verumgruppen besserte.
Morbus-Crohn-Aktivität gedämpft
In einer anderen Doppelblindstudie wurden im Rahmen der Natalizumab Pan-European Study Group 248 Patienten mit moderatem bis schweren Morbus Crohn behandelt (2). Sie erhielten randomisiert im Abstand von vier Wochen jeweils zwei intravenöse Infusionen: entweder eine Infusion Natalizumab (3 mg/kg) gefolgt von Placebo oder zwei Infusionen Natalizumab (3 mg/kg), zwei Infusionen Natalizumab (6 mg/kg) oder zwei Infusionen mit Placebo.
Ein Therapieerfolg wurde anhand der Veränderungen in den Scores für die Aktivität des Morbus Crohn, der Lebensqualität sowie der Spiegel des C-reaktiven Proteins (CRP) als Entzündungsmarker gemessen.
In der Gruppe von Patienten, die zwei Infusionen mit 6 mg/kg Verum erhielten, traten nach sechs Wochen nicht mehr klinische Remissionen auf als in der Placebogruppe, während deren Rate nach vier und acht Wochen signifikant höher war. Die Autoren erklären dies damit, dass die Zahl der Remissionen unter Placebo nach sechs Wochen außergewöhnlich hoch lag. In den Natalizumab-Gruppen besserten sich die Ansprechraten signifikant (definiert als Reduktion von mindestens 70 Punkten im Aktivitätsindex). Die höchste Remissionsrate betrug 44 Prozent, die höchste Ansprechrate 71 Prozent.
Insgesamt waren die beiden Infusionen von 3 und 6 mg/kg Natalizumab ähnlich wirksam. Die Lebensqualität besserte sich bei allen Patienten, die Verum gespritzt hatten, und die CRP-Spiegel bei den Patienten, die jeweils zwei Infusionen des Antikörpers erhalten hatten. Die Nebenwirkungsraten waren in allen vier Gruppen vergleichbar.
Damit könnte Natalizumab neue Therapiemöglichkeiten für Patienten mit Multipler Sklerose und Morbus Crohn eröffnen. Ob sich diese Ergebnisse auch auf Dauer verifizieren lassen, müssen Langzeitstudien zeigen. Inzwischen sind vier Phase-III-Studien angelaufen, die die Wirksamkeit und Sicherheit des Antikörpers bei beiden Krankheiten prüfen sollen.
Literatur
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