2,6 Tonnen medizinisches Reisegepäck |
18.09.2000 00:00 Uhr |
Seit 15. September finden die 27. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit im australischen Sydney statt. 10.400 Athleten kämpfen in 28 Sportarten um die 300 begehrten Goldmedaillen. Dafür gehen sie an die Grenzen ihrer körperlicher Leistung oder darüber hinaus. Der Arzt ist einer der wichtigsten Begleiter des Athleten.
Die medizinische Versorgung bei Olympia ist eine anspruchsvoller Job. Der Griff in die "Apotheke" will beim Leistungssportler wohl überlegt sein erlaubtes Arzneimittel oder Doping? Der betreuende Arzt und der Sportler bewegen sich leicht an den Grenzen der Legalität. Schon ein einfaches Mittel gegen Husten kann - gewollt oder nicht - zur Dopingfalle werden.
Über 40 Ärzte sorgen in Sydney für das gesundheitliche Wohl der deutschen Mannschaft mit ihren 433 Athleten; hinzu kommt ein Tross von Physiotherapeuten und medizinischer Verwaltung. Die Arbeit des medizinischen Stabs beginnt aber nicht erst vor Ort. Dr. G. Huber von der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg, seit 1980 Koordinator der "Apotheke" für die Olympischen Spiele, arbeitet von Olympiade zu Olympiade an der Zusammenstellung der Medikamente, die jeweils mitgenommen werden. Eine riesige logistische Aufgabe: Es wird alles eingeflogen; denn vor Ort werden keine Medikamente gekauft. "Die Sportler wollen so versorgt werden, wie sie es gewohnt sind", so Huber. Die Medikamente müssen bekannt sein, denn es dürfen auf keinen Fall unerwartete Unverträglichkeiten oder gar allergische Reaktionen auftreten. Und natürlich muss auch der behandelnde Arzt mit dem Präparat vertraut sein. Man darf sich bei einem Ereignis wie Olympia eben keine Fehler leisten.
Arzneimittelliste umfasst 50 Seiten
Die Arzneimittelliste inklusive Verbandsmaterial und der Physiotherapieliste ist ein 50-Seiten langes Buch, erzählt Huber. Die Zusammenstellung der Medikamente erfolgt auf der Basis früherer Olympiaden. Die Verbandsärzte erhalten eine Liste der Medikamente und können darauf aufbauend angeben, wie viele Medikamente ihre Athleten benötigen, ob zusätzliche Präparate oder spezielle Darreichungsformen gewünscht werden. Die Liste benennt den Namen des Medikaments, den Hersteller, die Darreichungsform und die Menge, die mitgenommen wird. 2,6 Tonnen Medikamente, Labor und Medizintechnik sind in diesem Jahr in Sydney mit dabei. "Und das ist nur noch ein Fünftel der Menge, die wir in Atlanta mit hatten", erklärt Huber. Man habe sich für Sydney wegen des langen Transports sehr eingeschränkt.
Tape-Sponsoren, die Bundeswehr und Porsche
Die Industrie unterstützt Olympia. "Wir haben 206 Pharmaunternehmen angeschrieben und eine große Resonanz erhalten", so der Mediziner. Die Medikamente werden nahezu komplett von der Industrie finanziert. Selbst bei einem der umfangreichsten Posten, dem Tape, konnte ein Sponsor gefunden werden, der die Hälfte der Kosten übernimmt und insgesamt günstige Konditionen einräumt. Auch für Geräte wie Messeinrichtungen für Laktat oder CRP konnten großzügige Sponsoren gewonnen werden. Die Bundeswehr stellt die Kisten für den Transport und Porsche/Australien rüstet alle technischen Geräte ortstauglich um.
Unter den mitgenommenen Medikamente befinden sich vor allem Präparate zur Behandlung von Infektionen oder gastrointestinalen Beschwerden und natürlich Sportverletzungen. Diese vermeidlichen Bagatellerkrankungen haben für den Leistungssportler einen erheblichen Krankheitswert. Während Olympia muss der Athlet Topleistungen bringen und bewegt sich an der Grenze der körperlichen Belastungsfähigkeit; da kann ein kleiner Schnupfen schon die Medaille kosten. Seit der verheerenden Grippewelle bei den Olympischen Spielen in Nagano 1998 wissen die Verantwortlichen, was eine Epidemie bei Olympia bedeuten kann. Damals mussten eine Reihe von Sportlern ihre Wettkämpfe absagen, es wurden Quarantänestationen eingerichtet, viele Athleten versuchten sich mit Mundschutz zu schützen und insgesamt herrschte Verunsicherung und Unruhe.
Laut Huber besteht für Sydney momentan kein Grund zu solcher Panik. Die Sportler hätten sich allerdings schon seit langem auf die Spiele vorbereitet, erklärt Huber. Der Körper ist ausgelaugt und somit besonders anfällig für Infekte. Sind dann noch viele Leute auf engem Raum zusammen, wie dies im olympischen Dorf der Fall ist, geht ein Infektion schnell um. Auch eine vorbeugende Impfung ist nicht unproblematisch. Die Verbandsärzte wurden vorab über mögliche Immunisierungen informiert, mussten dann aber selbst entscheiden, gegen was welcher ihrer Schützlinge geimpft werden sollte.
Kein Müsli von daheim
Auch eventuell drohende Magendarm-Krankheiten bescheren den Medizinern so manche Sorgenfalte. Denn bei den hohen Temperaturen in Sydney sind vor allem Elektrolytverluste problematisch, weiß Huber. Erschwerend kommt hinzu, dass keinerlei Nahrungsmittel mit nach Australien genommen werden dürfen. Es herrschen strenge Einfuhrbedingungen. Obwohl lange im Voraus versucht wurde, mit den australischen Behörden einig zu werden, blieb es bei dem Verbot, erzählt Huber. So müssen die Sportler auf ihr gewohntes Müsli verzichten und sich auf die Ernährung vor Ort einstellen.
Bei den traumatologischen Indikationen dominieren Verletzungen der großen Gelenke. Gerade in Disziplinen mit vielen Vorläufen bleibt oftmals nicht genügend Regenerationszeit. Viele Sportler reisen bereits mit nicht ausgeheilten Verletzungen nach Sydney. Schnell ist dann im Wettkampf die Überlastungsverletzung da oder alte Verletzung brechen wieder auf.
Ärzte immer an der Grenze der Legalität
Nicht nur vom Athleten wird während der Olympiade Hochleistung verlangt, sondern auch von den betreuenden Ärzten. Immer mehr Großereignisse, immer weniger Zeit zur Regeneration, Rekorde in kaum noch zu steigernden Grenzbereichen körperlicher Leistungsfähigkeit führen zu immer mehr Verletzungen und Überlastungssyndromen. Ohne eine optimale medizinische Betreuung ist Topleistung heute kaum mehr möglich. Auch die medikamentöse Versorgung des Athleten ist ein schmaler Grad zwischen medizinischer Behandlung zur Unterstützung der Regeneration, Versorgung von Krankheit sowie Verletzung auf der einen Seite und der unerlaubten Leistungssteigerung auf der anderen Seite. In der ärztlichen Praxis erlaubte Substanzen sind im Sport oft verboten oder nur in bestimmten Dosierungen erlaubt medizinische Ethik oder sportliche Ethik, eine nicht immer einfach zu beantwortende Frage für den betreuenden Arzt.
Arzneien sorgfältig auswählen
Dennoch ist laut Huber die Behauptung falsch, ein Sportler könne wegen der Dopingliste nicht ausreichend medikamentös versorgt werden. Die Auswahl der Medikamente muss nur mit einem hohen Maß an Sorgfalt getroffen werden und der Arzt im Leistungssport braucht ein nicht unerhebliches pharmakologisches Wissen.
Die Kommerzialisierung des Sports und die Diskrepanz zwischen Belastung und Belastbarkeit provozieren immer häufiger den Griff in die Dopingkiste. Domhnall MacAuley, Herausgeber des British Journal of Sports Medicine, ehemaliger Topruderer und heftiger Gegner von Doping stellt fest: Ist erst einmal der Glaube gekeimt, der Athlet müsse Medikamente nehmen, um Medaillen zu gewinnen, ist der Griff in die "verbotene" Apotheke nicht mehr weit.
Doping hat eine lange Tradition
Das olympische Motto von Baron Pierre de Coubertin "höher, schneller, weiter" verleitet heute immer häufiger zu unlauteren Methoden. Dabei ist die Einnahme von Substanzen zur Leistungsverbesserung nicht neu. Schon in der neolithischen Zeit war der Gebrauch von Mohn üblich und bei den Römern und Griechen stieg der Verzehr von Rindfleisch während der Olympischen Spiele drastisch; sie glaubten, so die Kraft der Stiere zu bekommen. Auch Ginsengwurzeln, Cocablätter oder Kava wurden hoch gehandelt. Doping im heutigen Sinne wurde aber erst im 19. Jahrhundert populär. Heroin und Morphin waren die ersten bekannten Drogen, die zur sportlichen Leistungssteigerung eingesetzt wurden. Arthur Lindon, ein Radrennfahrer, gilt als das erste Dopingopfer; er starb wenige Monate nach dem Bordeaux-Paris-Rennen 1896. Bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin nahmen Sportler erstmals Amphetamine. Die anabolen Steroide folgten in den 50er Jahren.
Doper immer einen Schritt voraus?
In den letzten Jahren hat Doping erneut eine neue und gefährliche Wende genommen. Die Einführung von Wachstumshormonen und das intravenösem Doping mit Eigenbluttransfusion und, als neueste "Errungenschaft" der Dopingszene, Erythroproetin (EPO) bedeuten für den Sportler eine immer größere Gefahr für die Gesundheit. Der Fall Marco Pantani und die gesamte Tour de France 1999 hat EPO in den Vordergrund der Dopingdiskussion gebracht und ein neues Kapitel in der Dopinghistorie eröffnet.
Insbesondere Ausdauersportler haben künstliches EPO für sich entdeckt, denn mit der Erhöhung der Anzahl roter Blutkörperchen wird die Sauerstoffversorgung des Körpers verbessert. Im Prinzip ersetzt EPO-Doping das Höhentraining. Denn auch so wird die O2-Transportkapazität bei gleichbleibendem Blutvolumen verbessert und somit die Leistung erhöht und das um bis zu 15 Prozent. Aber EPO ist nicht ungefährlich. Zu viele rote Blutkörperchen können das Blut soweit verdicken, dass es zu Herzversagen oder Schlaganfall kommt. Sportmediziner vermuten, dass seit den 80er Jahren 26 Spitzensportlern nach EPO-Missbrauch starben.
Das Fatale: Der Nachweis von EPO-Missbrauch war bisher nahezu unmöglich. Der Dopingtest wird zu eine immer anspruchsvollere Aufgabe die Athleten scheinen immer einen Schritt voraus zu sein, so MacAuley. Künstliches EPO ist vom körpereigenen Hormon kaum zu unterscheiden. Zudem wird die Substanz relativ schnell wieder vom Körper ausgeschieden, die Wirkung bleibt aber lange bestehen. Einzig der Hämatokrit konnte bisher zum corpus delicti gemacht werden. Ein über dem Limit liegender Hämatokrit ist aber kein beweiskräftiger Hinweis auf Doping, da dickeres Blut auch andere Ursachen haben kann. Die Verantwortlichen konnten daher bislang nur Startsperren zum Schutz der Athleten erteilen.
Rechtzeitig für Sydney neuer EPO-Test
Rechtzeitig für die Olympischen Spiele wurde jetzt ein neuer kombinierter EPO-Test zugelassen, der am Australian Institute of Sport und in Frankreich entwickelt wurde. Es handelt sich um einen kombinierten Blut- und Urintest. Der Urintest ist ein direktes Nachweisverfahren und wurde in einem französischen Antidopinglabor entwickelt. Im Urin kann EPO aber nur wenige Tage nach Gabe nachgewiesen werden. Über die Blutbildanalytik ist allerdings nur ein indirekter Nachweis möglich, dies aber auch noch Wochen nach Absetzen von EPO. Das Diagnostik-System, mit dem der Bluttest durchgeführt wird, stammt von der Bayer AG. Dr. Robin Parisotto, einer der Entwickler des Bluttests, hat überzeugende Untersuchungsergebnisse: von 189 Versuchen gab es nur ein falsch-positives Ergebnis und bei zwei Dritteln der Sportler konnte eine Manipulation auch noch drei Wochen später nachgewiesen werden.
Die neue Testkombination als Standard für Sydney hat in der Szene für große
Aufregung gesorgt. So lässt die chinesische Mannschaft plötzlich 27 Sportler zu Hause.
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