Organismus als sprudelnde Quelle neuer Arzneistoffe |
20.12.1999 00:00 Uhr |
Die Ankündigung "Mutschler kommt" sorgt gewöhnlich für ein volles Haus. So geschehen beim Abschiedsvortrag von Professor Dr. Dr. Ernst Mutschler vor den hessischen Apothekern: Der große Hörsaal des Niederurseler Biozentrums war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Mutschler-Maxime "Man soll dann aufhören, wenn es noch Einem von Hundert leid tut" ging damit voll auf. In seinem Vortrag über therapeutische Defizite am Ende des Jahrhunderts zog er nochmals alle Register seines rhetorischen Könnens.
Zwar verfügen wir heute über Arzneimittel, von denen unsere Großeltern noch nicht mal zu träumen wagten. Trotzdem klafft bei manch anderer Indikation ein therapeutisches Loch, zum Beispiel was Degenerationsprozesse des Zentralnervensystems, maligne Tumore oder die kausale Behandlung chronisch entzündlicher Erkrankungen betrifft. Ansätze, diese therapeutischen Defizite zu beheben, gibt es jedoch. "Es ist faszinierend zu beobachten, dass unser Körper die am besten sprudelnde Quelle für innovative Leitstrukturen ist", erklärte Mutschler.
Erythropoietin, Interleukine oder Endostatin: Alles Beispiele, dass körpereigene Substanzen erfolgreich Modell für neue Arzneistoffe stehen. Ihr Manko: Sie werden zerstört, wenn sie peroral gegeben werden. Ausweg ist beispielsweise die Entwicklung von Peptidomimetika, jene kleinen Moleküle, die zwar selbst keine Peptidstruktur haben, aber wie Peptide wirken. Ein Paradebeispiel dafür liefert die Natur: Morphin als Peptidomimetikum ahmt körpereigenes Endorphin nach.
Mittlerweile in der Therapie von Hypertonie bewährt haben sich die Angiotensin-II-Rezeptorenblocker, die die Peptidstruktur von Angiotensin kopieren. Mutschler sieht in den Peptid-Nachahmern eine erfolgversprechende Option für die Zukunft: "Wenn ich noch mal 25 Jahre alt wäre, würde ich mich auf die Suche nach Peptidomimetika begeben."
Auf körpereigene Substanzen setzt auch die Parkinson- und Schlaganfall-Forschung. Zwei neurotrophe Wachstumsfaktoren befinden sich schon in der klinischer Phase II und III. Zum einen der nervenernährende Glial Cell-Line Derived Neurotrophic Factor (GDNF), der von der Glia als Stütz- und Funktionsgewebe des Nervensystems gebildet wird. Im Parkinson-Tiermodell schützte GDNF laut Mutschler dopaminerge Neurone und stellte die funktionale Aktivität vorgeschädigter Nervenzellen wieder her. Die klinischen Prüfungen der Phase II bestätigten: GDNF stoppt die Parkinson-Progression.
Der zweite viel versprechende Kandidat ist bFGF (basic Fibroblast Growth Factor) zur Schlaganfalltherapie. bFGF, als Wachstumsfaktor aus dem Bindegewebe, zeigte im Tierversuch neuroprotektive Eigenschaften bei zerebraler Ischämie. Das Ausmaß der Gewebeschädigung bei ischämischen Insult war signifkant erniedrigt, informierte Mutschler. Der Faktor stehe kurz vor der Markteinführung.
Angiogenesehemmung als neuer Weg in der Tumortherapie
"Es ist unstrittig, dass die klassische Chemotherapie am Ende ist." Nach wie vor seien Magen- oder Lungentumore mit Chemotherapeutika nicht zu behandeln. "In der Krebstherapie stehen wir vor einem Paradigmawechsel", prophezeite Mutschler. Man habe nicht mehr primär die Geschwulst im Blickpunkt, sondern das zugrundeliegende Bindegewebe. Damit der Tumor wachsen kann, "muss er dafür sorgen, dass sich das Bindegewebe uneingeschränkt in seinen Dienst stellt. Er versklavt das umliegende Gewebe." Dies geschieht, indem der Tumor Faktoren freisetzt, die für eine gute Versorgung des umliegenden Gewebes sorgen.
Dies gilt es zu verhindern. Angiogenesehemmstoffe - also Substanzen, die die Neubildung von Gefäßen verhindern - blockieren die Faktoren, die das Stroma ernähren. Dadurch können Tumor und Metastasen nicht wachsen. Voraussetzung: Die Angiogenese muss schon bei wenigen Tumorzellen inhibiert werden, damit dieses Prinzip greift. Welche Angiogenesehemmstoffe stehen zur Verfügung? Mutschler: "Wiederum endogene Faktoren wie Endostatin und Angiostatin. Hier schließt sich der Kreis."
Endostatin durchlaufe derzeit die klinische Bewährungsprobe. Auch wenn das Experiment fehlschlage, seien Endostatin und Angiostatin als Peptide Leitstrukturen für die Entwicklung von Peptidomimetika.
Antizytokine bei rheumatoider Arthritis und Morbus Crohn
Große Hoffnung in der Behandlung chronisch entzündlicher Erkrankungen setzt man auf die gerade in die Therapie eingeführten Tumornekrosefaktor-a-Blocker (TNF-a-Blocker). Das proinflammatorische Zytokin TNF a steht an der Spitze der Entzündungskaskade, die die Zerstörung des Gelenks bei rheumatoider Arthritis einleitet oder die Entzündung bei Morbus-Crohn-Patienten immer wieder anfacht.
Deshalb macht ein TNF-a-Antikörper wie Infliximab (Remicade®)
Sinn, der die Wirkung von TNF a aufhebt und damit den Start der
immunologischen Entzündungskaskade verhindert. Etanercept (Enbrel®)
ist dagegen ein so genanntes TNF-a-Rezeptor-IgG-Fusionsprotein.
Dabei handelt es sich um einen löslichen TNF-a-Rezptor, der
nach der Injektion im Blut zirkuliert und schon dort das Zytokin abfängt.
"Gewissermaßen als Autobahnpolizei fängt der lösliche Rezeptor TNF a ab, bevor dieser sein Unwesen treiben kann", erklärte
Mutschler. Da der Rezeptor nur eine Halbwertszeit von 30 Sekunden hat, kombinierten ihn
die Pharmaforscher mit Immunglobulin G (IgG). Die Halbwertszeit ist nun zufriedenstellend.
Mutschler: "Eine Injektion machte die Patienten für vier Wochen schmerzfrei."
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