Pharmazie
Sie sind winzig, können ohne die Hilfe anderer Organismen überhaupt
nicht existieren, und viele von ihnen werden nicht einmal von einer
Membranhülle umgeben. Trotzdem sind sie offensichtlich alles andere als
schutz- oder harmlos. Glaubten vor Jahren noch viele Wissenschaftler, ein
Sieg über die Viren sei in greifbarer Nähe, schlägt jetzt das Pendel wieder
zugunsten der Mikroorganismen aus.
Grund genug für die Landesapothekerkammer Baden-Württemberg, die viralen
Infektionen als Thema für den diesjährigen Fortbildungskongreß am 22. und 23.
November in Heidelberg zu wählen. Das Themenspektrum der Veranstaltung reichte
von den molekularen Grundlagen der Erkrankung über die Epidemiologie bis zur
Therapie.
Spezifität bedeutet Resistenzgefahr
Doch auch wenn der molekulare Aufbau möglicher Zielstrukturen für Arzneimittel
bekannt ist, bleibt die Entwicklung von geeigneten Wirksubstanzen schwierig.
Professor Dr. Gerd Folkers von der ETH Zürich beschäftigt sich mit dem Design
von biologisch aktiven Molekülen, die einen bestimmten Rezeptor oder ein
bestimmtes Enzym ausschalten können. Dabei sei es oft kein Problem durch
Hochgeschwindigkeitsscreening, bei dem bis zu 100 000 Substanzen am Tag
getestet werden können, in-vitro wirksame Moleküle zu finden. Da dies jedoch
zumeist Peptide sind, bereitet die Galenik oft unlösbare Probleme.
Ein weiteres Problem ist die anscheinend unbegrenzte genetische Wandlungsfähigkeit
von Viren und ihrer Proteine. So habe sich die HIV-Protease seit ihrer Entdeckung
um rund 30 Prozent verändert, berichtete Folkers. Die Konsequenz aus der hohen
Mutationsrate seien resistente Virenstämme. Die Gefahr sieht Folkers auch bei den
heute zur Aids-Tripel-Therapie eingesetzten Medikamenten, die auch die
HIV-Protease blockieren. Der Züricher Wissenschaftler hält es für unverantwortlich,
diesen Medikamenten den Sieg über das HI-Virus zuzuschreiben. Sie seien erst seit
kurzem im Einsatz und eine Abschätzung des Resistenzrisikos sei heute noch nicht
möglich. Folkers rechnet fest mit Resistenzen.
Die Crux beim Design von Arzneistoffen ist der negative Zusammenhang zwischen
Spezifität eines Moleküls und der Anfälligkeit gegen durch Mutationen ausgelöste
Resistenzen. Je exakter ein neuentwickeltes Molekül an eine Zielstruktur paßt, desto
schneller wird es durch Mutationen im Bereich der Zielstruktur unwirksam. Wenn
sich das Schloß verändert, paßt der Schlüssel nicht mehr hinein. Besonders
gefährdet seien Protein-Wirkstoffe, so Folkers. Größere Chancen wirkungsvolle und
nicht zu spezifische Arzneistoffe zu entwickeln, sieht er deshalb bei Nichtproteinen.
Ein vielverspechender Ansatz für einen HIV-Protease-Inhibitor seien die erst
kürzlich entwickelten zyklischen Harnstoffe, die die Umgebung des aktiven Zentrums
der HIV-Protease räumlich blockieren, ohne an spezifische Moleküle zu binden. So
verhindern sie, daß andere Proteine an das aktive Zentrum der Protease andocken
und umgesetzt werden können.
Gegen die zyklischen Harnstoffe könne das HI-Virus keine Resistenz entwickeln,
weil dazu die Grundstruktur der Protease geändert werden müßte, erläuterte
Folkers. Mutationen beträfen jedoch nie die Raumstruktur eines Moleküls, da es
dadurch instabil werde.
Hepatitiden:gefährlich sind die chronischen
Über 300 Millionen chronische Hepatitis-Träger gibt es weltweit; allein in
Deutschland kommt es jährlich zu bis zu 50000 Neuinfektionen, erklärte Professor
Dr. Guido Gerken aus Mainz und beklagte die bisher mangelnde Impfbereitschaft
der Bevölkerung. Immerhin stünden gegen Hepatitis A, -B und damit auch -D
(immer mit -B gekoppelt) Vakzinen zur Prophylaxe zur Verfügung.
Ausschließlich akut verlaufende Formen wie die Hepatitis A und E (beide enteral
übertragbar) spielen nach seinen Worten für die Therapie kaum eine Rolle, da sie
ohne Langzeitfolgen ausheilen. In seinem Referat konzentrierte sich Gerken daher
auf Formen mit chronischem Verlauf, allen voran die Hepatitis B (HBV,
Chronifizierung in 5 bis 10 Prozent der Fälle) und -C (HCV, Chronifizierung bei
mindestens jedem zweiten Patienten). Übertragungsrisiken sind bei beiden
besonders durch sexuelle Kontakte gegeben, häufig betroffen sind auch
i.v.-Drogenabhängige. Das Risiko, sich über Bluttransfusionen mit HCV zu infizieren,
sei aufgrund der inzwischen guten Nachweismöglichkeiten mittlerweile auf unter 5
Prozent gesunken.
Die C-Variante - früher wegen fehlendem Nachweis Non-A-Non-B-Hepatitis - ist
laut Gerken im Frühstadium oft nur schwer zu erkennen, da sie sich nur bei rund 30
Prozent der Patienten in Form eines Ikterus bemerkbar macht; ansonsten zeigen sich
nur unspezifische Symptome wie Müdigkeit. Bei 20 Prozent der Patienten kommt es
nach Akutkontakt zur Ausheilung, erklärte er, bei den anderen folgt eine
asymptomatische Phase, die bis zu rund 20 Jahre andauern kann. Das nächste
Stadium kann eine Leberzirrhose sein, dann nach weiteren 10 bis 20 Jahren ein
Leberzellkarzinom. Charakteristisch für die Hepatitis C sei die mögliche Ausweitung
auf andere Organei wie Haut, Nieren oder Gelenke. Eine Vakzine steht aufgrund der
hohen Variabilität des Virus bis heute nicht zur Verfügung.
Prognoseverschlechternd wirken sowohl bei der Hepatitis B als auch -C unter
anderem hohes Alter (> 40), schlechter Immunstatus, hohe Virusmenge, Dauer der
Infektion sowie Alkoholkonsum. Letzterer beschleunigt die Entwicklung einer
Leberzirrhose erheblich, so Gerken. Therapie der Wahl ist bei beiden Formen der
vier- bis sechsmonatige Einsatz von Interferon alpha (IFNa), das durch
Immunmodulation die Entzündung zurückdrängen, die Lebensqualität der Patienten
verbessern und die Krankheitsprogression stoppen soll. Während diese
Therapieziele durchaus im Bereich des Realisitischen liegen, sei die Verhinderung
eines Leberzellkarzinoms durch IFNa-Behandlung derzeit noch eine spekulative
Größe, urteilte der Mediziner.
Voraussetzung für den IFN-Einsatz ist eine gesicherte Diagnose sowie der
Ausschluß bestimmter Kontraindikationen, darunter Depressionen, hämatologische
Komplikationen; als relative Kontraindikationen gelten Schwangerschaft sowie
bestimmte maligne Erkrankungen. Die Erfolgsquote ist sowohl bei der Hepatitis B
als auch C nur begrenzt zufriedenstellend: Die Ansprechraten liegen zwischen 20 und
40 Prozent, rund ein Drittel der Patienten spricht gar nicht auf die Therapie an; etwa
ein Drittel der zunächst erfolgreich Behandelten entwickelt auf Dauer wieder
Rezidive.
"Bei einer IFN-Therapie handelt es sich nicht um Zuckerwasser". In jedem Fall
müsse man die Patienten genau über die möglichen Nebenwirkungen der
Behandlung informieren, forderte Gerken. Ganz oben stehen dabei grippeähnliche
Symptome oder Kopfschmerzen, seltener Leuko- oder Thrombozytopenien
(Absetzen!), selten Appetitlosigkeit, Übelkeit, Haarausfall oder Depressionen (siehe
auch Kontraindikationen). Die Nebenwirkungen seien dosisabhängig und in der
Regel reversibel, betonte er.
Bei Nichterfolg der IFN-Behandlung versuche man die Virusreplikation durch
Nukleosidanaloga wie Lamivudin oder Famciclovir zu unterbinden, führte Gerken
aus. Mit Lamivudin habe man in klinischen Studien in 90 Prozent der Fälle die
Menge der HBV-DNA deutlich reduzieren können, außerdem sei es zu
histologischen Verbesserungen gekommen. Resistenzentwicklungen hätten in der
Größenordnung von rund 14 Prozent gelegen. Als weiteren Ansatz bei
Nichtansprechen auf Standard-IFN nannte er die Hochdosis-Dauertherapie mit
Interferon. Bei der Hepatitis C habe sich in Studien auch die Kombination aus einem
Nukleosidanalogon (Ribavirin) und IFN als erfolgreich zur Rezidivprophylaxe
erwiesen.
Als Ausblick ging Gerken auf neue molekulare und immunologische Ansätze zur
Behandlung der Virus-Hepatitiden ein. Vorstellbar sei beispielsweise der Einsatz von
Antisense-Oligonukleotiden, Ribozymen oder einer DNA-Vakzine.
Herpes: Spitzenreiter unter den Viruserkrankungen
"Herpesviren sind weltweit die am weitesten verbreiteten Viren". Nach Einschätzung
von Professor Dr. Peter Wutzler aus Erfurt sind nahezu 100 Prozent der
Erwachsenen mit Herpesviren durchseucht. Nach der Primärinfektion bleibt das
Virus lebenslang im Körper; die Latenzorte, in der Regel Ganglien, sind laut Wutzler
bekannt. Durch Auslöser wie Fieber, Streß, hormonelle Faktoren, UV-Licht oder
andere Promotoren können die ruhenden Erreger bekanntlich reaktiviert werden.
Wutzler bei der Fortbildungsveranstaltung in Heidelberg: "Bis zu einem Drittel hier in
diesem Raum leiden unter Rezidivinfektionen".
Alle derzeit bekannten humanpathogenen Herpesviren zeigen
elektronenmikroskopisch die gleiche Morphologie, erklärte er. Nur in einem Prozent
der Fälle seien die Primärinfektionen klinisch relevant, der Rest verlaufe
asymptomatisch - trotzdem existieren die Viren latent im Körper weiter. Als
Beispiele nannte Wutzler den Herpes labialis und genitalis: Das Auftreten der
Symptome sei hier nie eine Primärinfektion, es handele sich immer um
Rezidiverkrankungen.
"Die Entwicklung der Virustatika war ein Meilenstein der letzten ein bis zwei
Jahrzehnte", sagte Wutzler mit Blick auf die heute vorhandenen
Therapiemöglichkeiten bei Herpesinfektionen. Als Beispiele für etablierte Wirkstoffe
nannte er unter anderem das Aciclovir, das "seine Schokoladenseite" auf dem Gebiet
der HSV-1- und -2-Therapie habe; in optimaler Dosierung zeige es auch bei
Zosterinfektionen eine ausreichende Hemmkonzentration. Für unersetzbar hält
Wutzler das Aciclovir unter anderem zur Behandlung schwerer Zosterinfektionen im
Gesichtsbereich sowie zur Therapie von Herpesenzephalopathien. Dem Vorteil der
guten Verträglichkeit und Wirksamkeit stehe jedoch die schlechte orale
Verfügbarkeit gegenüber, so daß zunehmend nur die intravenöse Applikation von
Aciclovir eine Rolle spiele.
Nachfolgepräparate mit besserer oraler Bioverfügbarkeit sind Valaciclovir und
Famciclovir. Wegen ihrer patientenfreundlichen Anwendung bei guter Wirksamkeit
gewinnen sie laut Wutzler beispielsweise in der H. genitalis-Therapie zunehmend an
Bedeutung. In den USA sei Valaciclovir inzwischen auch zur H. genitalis-Prophylaxe
(Suppressionsbehandlung) zugelassen, auch in Deutschland werde das noch in
diesem Jahr erwartet. Zu den neueren Virustatikaentwicklungen gehört auch
Brivudin, das nach Wutzler die beste Wirksamkeit gegen Zosterinfektionen zeigt,
begrenzt auch noch gegen Herpes simplex 1 und 2. Bei den anderen Herpesviren
spiele es keine Rolle.
Abschließend bezog Wutzler Stellung zur topischen Behandlung von
Herpesinfektionen: Nur für das Virustatikum Penciclovir gebe es eine nachgewiesene
Wirkung bei H. labialis. Als fraglich wertete er auch den Einsatz von angeblich
virustatischen Naturstoffen wie Salbei- oder Melissenblätterextrakt, Rosmarin-,
Kaffee- oder Chlorogensäure, für die nach seinen Worten bis heute
Wirksamkeitsbelege fehlen. Auch Prophylaxemaßnahmen in Form von
Herpes-Vakzinen seien bislang nicht von Erfolg gekrönt gewesen, bislang stehe kein
Impfstoff zur Verfügung, so Wutzler. Allerdings sei derzeit eine Vakzine gegen H.
genitalis in Entwicklung, erste Studien in den USA gäben Anlaß zu vorsichtiger
Hoffnung.
PZ-Artikel von Bettina Neuse-Schwarz und Daniel Rücker, Heidelberg

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