Maßgeschneiderte Arzneimittel aus der Apotheke |
23.09.2002 00:00 Uhr |
Umfrage zu Rezeptur und Defektur
von Sabine Groppe, Münster
Pro Jahr stellt eine Apotheke rund 1200 Rezepturen her, schätzte die ABDA im Jahre 1998. Hochgerechnet auf alle deutschen Apotheken ergibt sich so ein Jahreswert von rund 25 Millionen Zubereitungen. Eine Umfrage der Apothekerkammer Westfalen-Lippe hat nun den hohen Stellenwert von Rezeptur und Defektur eindrucksvoll bestätigt.
Unsere Dienstleistungsgesellschaft fordert heute von jeder Berufsgruppe, Mehrwerte im Sinne der Veredelung eines Produktes zu erbringen. Im Rahmen pharmazeutischer Tätigkeit steht der Patient im Fokus – das „Produkt“ ist die Sicherheit und Qualität der Arzneimittelversorgung. Mehrwertfaktoren der Apotheker sind beispielsweise Pharmazeutische Beratung und Betreuung, Zusammenarbeit von Apothekern und Ärzten im Sinne heilberuflicher Allianz, Sicherheit in der Selbstmedikation angesichts eines wachsenden Marktes in diesem Segment oder Dienstleistungen in der Apotheke. Einen zentralen Stellenwert hat die Rezeptur.
Immer eine exklusive Leistung
Die Bandbreite selbst hergestellter Arzneimittel in Apotheken ist groß und unterschiedlich anspruchsvoll – immer aber ist die Rezeptur eine exklusive und patientenorientierte Leistung der Apotheke. Patienten erleben die Herstellung „ihres Arzneimittels“ als einen besonderen Service der Apotheke und als einen erlebbaren Ausdruck exklusiver pharmazeutischer Kompetenz, der ihnen unmittelbar zu Gute kommt. Jede deutsche Apotheke ist grundsätzlich in der Lage, Rezepturen herzustellen. Die Apothekenbetriebsordnung schreibt einen separaten Raum für die Anfertigung solcher „maßgeschneiderten“ Arzneimittel vor. Durch die Rezeptur sichert die Apotheke ein hohes Maß an Qualität und Individualität. Rezepturen sind ein Beispiel dafür, was nur Apotheken leisten können. Ein wichtiger und exklusiver Mehrwertfaktor, denn Versandhandel oder Internetanbieter scheitern hier kläglich.
Das große Spektrum selbst hergestellter Arzneimittel verdeutlicht sich zum Beispiel bei der Anfertigung hoch spezialisierter individueller Rezepturen für schwerstkranke Patienten, beispielsweise in der Krebstherapie oder bei parenteral zu versorgenden Patienten. Solche Spezialrezepturen sind pharmazeutisch besonders anspruchsvoll und aufwändig und erfordern deshalb erhebliche Investitionen fachlicher und materieller Art. Der Mehrwertfaktor beispielsweise für krebskranke Patienten ist jedoch offensichtlich. Die Arzneimitteltherapie kann vom stationären in den ambulanten Bereich verlegt werden.
Arzneimittel sind heute für den Laien im Wesentlichen industriell hergestellte Produkte. Dennoch spielt die Rezeptur in Apotheken seit vielen Jahren eine bedeutende Rolle. In den 50er und 60er Jahren hatte die Eigenherstellung von Arzneimitteln in Apotheken zweifellos einen hohen Stellenwert. Obwohl die Herstellung von Arzneimitteln in öffentlichen Apotheken in den letzten Jahrzehnten stärker zurückgegangen ist, besteht eine veränderte Einstellung gegenüber Rezepturen und gleichzeitig der Anspruch höchster Qualität. Dass es sich hier um ein sehr qualifiziertes und hoch komplexes Gebiet handelt, zeigt auch der gestiegene Beratungsbedarf der Apotheker selbst: Die ABDA hat in Eschborn eine zentrale Hotline des NRF (Neues Rezeptur Formularium) eingerichtet, die in den letzten Jahren jeweils rund 6000 Anfragen zu Rezepturproblemen von Apothekern beantwortete.
Professionalität ist wichtig: Daher unterstützen die Apothekerkammern durch Fortbildungsangebote diesen wichtigen Bereich pharmazeutischer Tätigkeit. Wir boten in Westfalen-Lippe allein in den letzten beiden Jahren zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen zum Komplex Rezeptur und Qualitätssicherung an, die von rund 1800 Teilnehmern (Apothekern wie PTA) besucht wurden. Dazu erarbeitet die Bundesapothekerkammer Leitlinien zur Qualitätssicherung in den wesentlichen pharmazeutischen Bereichen – bisher liegen drei solche Leitlinien für den Rezepturbereich vor. Weitere werden folgen. Ziel ist es, eine generelle Richtschnur für die Optimierung pharmazeutischer Qualität zu schaffen und eine gleich bleibend hohe reproduzierbare Qualität zu sichern
Bislang existieren kaum Daten zu diesem wichtigen Bereich apothekerlicher Tätigkeit: Es gibt nur wenige wissenschaftliche Arbeiten oder Umfragen, die sich diesem Thema gewidmet haben; beispielsweise vom Apothekerverband Niedersachsen im Mai 2000, der Apothekerkammer Niedersachsen im Jahr 1994 oder den Apothekerkammern Sachsen und Brandenburg im Jahre 1996. Nach Schätzungen der ABDA stellen alle deutschen Apotheken pro Jahr rund 25 Millionen Rezepturen her. Ziel dieser Umfrage war es unter anderem, die vorliegenden Daten zu erhärten.
Umfrage im Frühsommer 2001
Um einen Überblick über den Stellenwert der Rezeptur und Defektur in den Apotheken in Westfalen-Lippe zu gewinnen, hat die Apothekerkammer Westfalen-Lippe im Frühsommer 2001 eine breit angelegte Umfrage bei den Apotheken durchgeführt. Der Fragebogen war so konzipiert, dass er in Form einer Strichliste ausgefüllt werden konnte.
Per Definition ist eine Rezeptur eine Einzelherstellung im Bedarfsfall durch Zubereitung auf Grund ärztlicher Verschreibung oder auf Kundenwunsch. Die Rechtsgrundlagen finden sich im Arzneimittelgesetz (AMG) und in der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO). Im Gegensatz zu Fertigarzneimitteln, die durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind, bedarf es einer Zulassung für Arzneimittel gemäß Rezeptur und Defektur laut Arzneimittelgesetz nicht. Unter dem Begriff Rezeptur sind zunächst die so genannten ad hoc hergestellten Arzneimittel gefasst. Wir haben unterschieden zwischen so genannten „freien Kompositionen“ - also dem, was Ärzte per Rezept verordnen - und Rezepturen nach standardisierten Vorschriften, zum Beispiel dem NRF. Im Einzelnen fragten wir nach der Herstellung fester, halbfester oder flüssiger Formen. Die erbetene Dokumentation umfasste ein Zeitfenster von vier Wochen. Der Umfragezeitraum bezog sich auf insgesamt sechs Wochen - vom 1. Mai bis zum 15. Juni 2001.
Herstellung im Voraus
Ebenso wurde nach der Herstellung von Arzneimitteln im Voraus gefragt. Hier war zu unterscheiden nach defekturmäßig hergestellten Arzneimitteln beziehungsweise Bulkware (100er-Regel; § 21 (2) AMG), gemäß Standardzulassung hergestellten Arzneimitteln sowie gemäß Stada-Zulassung hergestellten Arzneimitteln und echten Hausspezialitäten. Wir baten unsere Mitglieder, für einen Zeitraum von vier Monaten, und zwar vom 1. Januar bis 30. April 2001 ihre Defektur anhand der Herstellungsprotokolle zu dokumentieren.
Die Defektur findet ihre gesetzliche Grundlage darin, dass auf Grund nachweislich häufiger ärztlicher oder zahnärztlicher Verschreibung in den wesentlichen Herstellungsschritten in einer Apotheke in einer Menge bis zu 100 abgabefertigen Packungen an einem Tag im Voraus hergestellt werden können. Hier sollten die Befragten zusätzlich angeben, ob es sich um die Herstellung gemäß standardisierter Vorschrift oder um eine „freie Komposition“ handelte.
Das Bundesministerium für Gesundheit ist nach § 36 AMG ermächtigt, bestimmte Arzneimittel in bestimmten Abgabeformen von der Pflicht zur Zulassung freizustellen soweit eine Gefährdung von Mensch und Tier nicht zu befürchten ist, weil die Anforderungen an die erforderliche Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erwiesen sind. Die Herstellung von Arzneimitteln mit Standardzulassung erfolgt auf Vorrat in abgabefertiger Packung nach Monographien. Zusätzlich zu der in der Monographie angegebenen Bezeichnung kann für das Arzneimittel ein frei gewählter Name benutzt werden. Eine Eigenaufmachung ist möglich. Apotheken, die standardzugelassene Arzneimittel, die apothekenpflichtig sind, herstellen, haben dies unverzüglich beim BfArM anzuzeigen (§ 67 Absatz 5 AMG).
Pharmazeutische Unternehmer, die eine Zulassung beantragt haben, können durch Mitgliederapotheken nach einheitlicher Vorschrift hergestellte Arzneimittel unter einheitlicher Bezeichnung in den Verkehr bringen lassen (§ 21 Absatz 3 AMG). Die Zulassung verbleibt beim Hersteller.
Echte Hausspezialitäten sind Fertigarzneimittel, die in der Apotheke hergestellt und unter dem Namen der Apotheke in den Verkehr gebracht werden. Diese unterliegen uneingeschränkt der Zulassungspflicht.
Täglich knapp vier Rezepturen
Insgesamt beteiligten sich im Kammerbezirk Westfalen-Lippe 535 Apotheken an der Umfrage, davon 527 der 2256 öffentlichen Offizinen und acht der 71 Krankenhausapotheken. Damit wirkten 23 Prozent aller Apotheken in Westfalen-Lippe mit. Nur 218 Apotheken (rund 40 Prozent der an Umfrage beteiligten) machten Angaben zur Herstellung im Voraus. Die 535 beteiligten Apotheken gaben an, an 24 Werktagen insgesamt 47.692 Rezepturen (freie Kompositionen und standardisierte Zubereitungen) hergestellt zu haben. Dies entspricht 3,7 Rezepturen pro Apotheke täglich.
Die Apotheken stellten in den zwei Wochen 44.789 „freie Kompositionen“ her. Dies entspricht 3,5 Zubereitungen pro Tag pro Apotheke. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese - anders als bei den Zytostatika – in vergleichbaren Ausmaß von allen Apotheken gefertigt wurden.
Bei Zytostatika-Zubereitungen handelt es sich um hochwirksame chemotherapeutische Parenteralia, die nur von öffentlichen Apotheken oder Krankenhausapotheken nur mit einem hohen apparativen Aufwand angefertigt werden können. Die strengen Anforderungen an Sterilität sowie die apparative Ausstattung, das wissenschaftliche Know-how der Mitarbeiter sowie ein hoher Sicherheitsstandard machen erfordern größere Investitionen.
Dass die Anzahl der angefertigten Zytostatika-Zubereitungen nicht gleichmäßig auf alle Apotheken verteilt sein kann, versteht sich von selbst. Im vierwöchigen Dokumentationszyklus wurden kammerweit 3251 solche Rezepturen angefertigt. Diese verteilten sich jedoch auf nur elf Apotheken (davon sechs öffentliche Apotheken und fünf Krankenhausapotheken), deren Einzelvolumen von einer bis zu 897 Zubereitungen im Befragungszyklus reichte.
Die Apotheken im Kammerbezirk Westfalen-Lippe stellten des weiteren 2903 Rezepturen nach standardisierter Vorschrift im Dokumentationszeitraum her, bezogen auf die Gesamtzahl der Rezepturen (47.692 Einheiten) war dies ein Anteil von 6,1 Prozent.
Freie Kompositionen überwiegen
54 Prozent der an der Umfrage aktiv beteiligten Apotheken, die freie Kompositionen gemeldet hatten, machten Angaben zur Herstellung nach standardisierter Vorschrift. Dies zeigt, dass die „freien Kompositionen“ im Rezepturalltag und im ärztlichen Verordnungsverhalten deutlich überwiegen.
Unangefochten auf Platz 1 beider Rezepturbereiche liegen halbfeste Arzneiformen zur kutanen, rektalen und vaginalen Anwendung. Auch Platz 2 in der Rangliste ist in beiden Gruppen identisch: flüssige Arzneiformen zum Einnehmen. Auch auf Platz 3 behaupten sich Tees und Teemischungen.
Insgesamt stellten die 218 beteiligten Apotheken in den 16 Wochen 480.659 Arzneimittel im Voraus her. Dabei wurden 63 761 „freie Kompositionen“ in dem 96 Arbeitstage umfassenden Zeitraum gemeldet. Dies entspricht 17,4 Defektur-Einheiten im Bereich freie Kompositionen nach der 100er Regel pro Tag pro Apotheke.
Auf standardisierten Vorschriften (zum Beispiel nach NRF) griffen 107 Apotheken zurück. Sie produzierten danach 107.610 Defekturen. Dies entspricht 10,5 Einheiten im Bereich standardisierter Vorschriften nach der 100er Regel pro Tag pro Apotheke.
Des weiteren meldeten 176 Apotheken, 5 295 Zubereitungen im Voraus mit Standardzulassung hergestellt zu haben. Dies entspricht 0,31 Rezepturen gemäß Standardzulassung pro Tag pro Apotheke.
Auf die Stada-Zulassung entfielen 150 Apotheken mit insgesamt 3258 Arzneimitteln, also 0,23 Präparate pro Tag und Apotheke.
Schließlich meldeten noch 27 Apotheken in dem Zeitraum von 96 Tagen die Herstellung von insgesamt 735 „Echten Hausspezialitäten“ im Voraus. Dies entspricht einem Anteil von 0,28 Einheiten pro Tag und Apotheke.
Bei 98 Prozent der im Voraus hergestellten Arzneimitteln handelt es sich also um Defekturen nach der 100er Regel (freie Kompositionen und standardisierte Zubereitungen). Auch hier belegen die halbfesten Arzneiformen zur kutanen, rektalen und vaginalen Anwendung, Tees und Teemischungen sowie die Emulsionen, Suspensionen und Lösungen zum Einnehmen die ersten drei Plätze.
Die Tatsache, dass von den insgesamt 480 659 im Voraus hergestellten Arzneimitteln rund 98 Prozent auf die Defektur nach 100er Regel entfallen, macht deutlich, dass die Mitwirkung der Apotheken bezüglich der Angaben in diesem Bereich geringer ausfallen musste als bei den Ad-hoc-Rezepturen. Nur in unmittelbarer Nähe von Arztpraxen, die nachweislich häufig bestimmte Rezepturen verordnen, ist die Herstellung im Defekturmaßstab möglich. Deshalb können die Werte in diesem Bereich nicht auf jede Apotheke in Westfalen-Lippe hochgerechnet werden.
Dass dies nicht angemessen ist, zeigt sich auch daran, dass insgesamt nur 218 Apotheken Angaben zur Defektur machten, das sind 9,4 Prozent aller 2327 öffentlichen Apotheken und Krankenhausapotheken in Westfalen-Lippe.
Versorgung auf höchstem Niveau
Die Umfrage der Apothekerkammer Westfalen-Lippe hat dank der regen Beteiligung von fast einem Viertel aller Apotheken in Westfalen-Lippe repräsentative Zahlen geliefert. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass Rezeptur und Defektur einen außerordentlichen Stellenwert innehaben. Im Zeitraum von vier Wochen wurden von den beteiligten Apotheken insgesamt 167.857 Zubereitungen produziert. Diese Zahl ist ein Beleg für den lebhaften Bedarf an selbst hergestellten Arzneimitteln, der umfassend durch die Apotheken in Westfalen-Lippe gedeckt wird.
Die deutschen Apotheken halten in ihren Warenlagern Arzneimittel im Wert von etwa 2,5 bis 3 Milliarden Euro vorrätig. Durch Rezeptur und Defektur verfügt jede Apotheke außerdem über die Möglichkeit, Arzneimittel patienten- und wohnortnah herzustellen.
Nur Apotheken sind zu dieser Leistung in der Lage: Rezeptur und Defektur verdeutlichen exemplarisch die besonderen Leistungen und die Patientenorientierung der deutschen Apotheke, die dezentral organisiert ist. Mit diesem flächendeckenden Versorgungssystem auf höchstem pharmazeutischen Niveau kann ein Versandhandel nicht konkurrieren. Denn der setzt auf ein zentrales Distributionssystem und berücksichtigt nicht die individuellen Bedürfnisse in der Arzneimittelversorgung. Die Sicherheit, Schnelligkeit und Dezentralität der deutschen Apotheke wird auch im Bereich der Herstellung von Arzneimitteln als uneinholbarer und unmittelbarer Vorteil für den Bürger deutlich.
Zu Beginn dieses Jahres ist Frau Dr. Sabine Groppe, Leiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Apothekerkammer Westfalen-Lippe, nach kurzer und schwerer Erkrankung verstorben. Unter ihrer Regie ist im Frühsommer 2001 die Umfrage zum „Stellenwert von Rezeptur und Defektur in westfälisch-lippischen Apotheken“ durchgeführt und ausgewertet worden. Leider war es ihr nicht mehr möglich, die bereits zum großen Teil erarbeitete Veröffentlichung fertig zu stellen.
Mit diesem dankenswerterweise von Frau Dr. Claudia Brüning und Herrn Dr. Andreas Walter aufbereiteten Artikel möchten wir die umfangreiche Arbeit unserer Kollegin Frau Dr. Sabine Groppe in ihrem Sinne der Fachöffentlichkeit zugänglich machen.
Jochen Stahl, Geschäftsführer Apothekerkammer Westfalen-Lippe
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