Lücken im Arzneimittelarsenal |
08.07.2002 00:00 Uhr |
von Stephanie Czajka, Berlin
Die Menschheit braucht neue Medikamente. Daran ließen die Experten einer Podiumsdiskussion am Forschungsinstitut für molekulare Pharmakologie (FMP) anlässlich der "Langen Nacht der Wissenschaften" in Berlin keinen Zweifel.
Nicht unumschränkt bejahen konnten sie allerdings die Frage, ob Unternehmen entwickeln, was dringend gebraucht wird. Der Grund: geforscht und produziert wird in Industrieländern, ungestillten Bedarf aber gibt es vor allem in Entwicklungsländern.
15 neue Medikamente wurden in den vergangenen 25 Jahren gegen Infektionskrankheiten, Todesursache Nummer eins in den Ländern der Dritten Welt, entwickelt. Rund 200 Medikamente kamen im gleichen Zeitraum gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf den Markt, berichtete Professor Dr. Walter Rosenthal, Direktor des FMP. Selbst Millionen von Patienten sind unternehmerisch uninteressant, wenn ihre Kaufkraft gering ist. Sogar fertig geprüfte Medikamente gegen weit verbreitete Krankheiten würden wegen geringer Profitabilität vom Markt genommen, berichtete Ludmilla Schlageter von der Organisation Ärtze ohne Grenzen. Aus diesem Grund stand beispielsweise Eflornithin, ein Medikament gegen die Schlafkrankheit, nicht mehr zur Verfügung. Die Situation änderte sich erst, als eine zweite, für Industrieländer interessante, Indikation entdeckt wurde. Eflornithin wird gegen Gesichtsbehaarung bei Frauen eingesetzt.
Schlageter sprach sich außerdem dafür aus, das Spektrum der Darreichungsformen zu erweitern. Eflornithin beispielsweise müsse über sechs Stunden infundiert werden, für Entwicklungsländer eigneten sich eher perorale Applikationsformen. „Wir sehen einen großen Bedarf an neuen Medikamenten“, sagte Schlageter. Das gelte neben der Schlafkrankheit insbesondere für Tuberkulose, Leishmaniose, Malaria und HIV-Infektionen.
Einer der diskutierten Lösungswege sind differenzierte Preissysteme. Industrieländer zahlen höhere, Entwicklungsländer dafür niedrigere Preise. Kontrazeptiva und Impfstoffe seien nach differenzierten Preissystemen abgegeben worden, sagte Schlageter. Unterschiedliche Preise beruhten jedoch nicht immer auf diesem Konzept, warnte sie. Ein Medikament gegen Meningitis beispielsweise sei in manchen Entwicklungsländern sogar teurer gewesen als in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wirklich billig war es nur dort, wo es mit Generika konkurrieren musste. Um die Entwicklung neuer Medikamente zu fördern, schlug Schlageter vor, jede neue Substanz in der klinischen Entwicklung auch hinsichtlich ihrer Wirkung auf die gängigsten Tropenkrankheiten zu untersuchen.
Bedarf und Angebot
In unserem Arzneimittelarsenal sahen die Experten ebenfalls Lücken und sogar ein Ungleichgewicht zwischen Bedarf und Angebot. So wirkten 30 Prozent unserer Medikamente gegen degenerative, aber nur 7 Prozent gegen Tumor-Erkrankungen, sagte Dr. Michael Schirner aus dem Bereich Diagnostika der Berliner Schering AG. Neue Medikamente gegen Krebs hält auch Dr. Jürgen Bausch, Ehrenvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, für besonders notwendig. Martin Tepel, Nephrologe am Universitätsklinikum Benjamin Franklin in Berlin, wünscht sich ein Medikament für Diabetiker, das einmal geschädigte Nieren wieder heilen kann. Nicht nur für den Patienten, auch ökonomisch wäre ein Präparat, das die Anzahl der Dialyse-Patienten verringern könnte, sinnvoll. Bausch wies außerdem auf die fehlenden Arzneimittel für Kinder hin. Die Grundlagenforschung sollte sich seiner Ansicht nach insbesondere mit den Gründen für die individuell unterschiedliche Infektabwehr beschäftigen. Klären Forschungsergebnisse, weshalb sich der eine infiziert und der andere nicht, käme dies auch Entwicklungsländern zugute. Schirner wies darauf hin, dass viele bekannte Medikamente noch nicht ausreichend erforscht seien. Die Forschung sei zu stark auf molekulare Erkenntnisse ausgerichtet. Aus Tierexperimenten und klinischen Studien könne man mehr herausholen. „Die Neubewertung und Erforschung bekannter Medikamente ist wichtig.“
„Ob arm, ob reich, als Patient ist man immer betroffen“, sagte Tepel.
Auch Patienten mit seltenen Erkrankungen muss geholfen werden. Hierfür
gibt es in verschiedenen Industrienationen Orphan Drug-Verordnungen. Sie
schaffen Anreize wie vereinfachte und beschleunigte Zulassungsverfahren
oder besondere Vertriebsrechte. Für Bausch hat dieser Ansatz jedoch auch
eine ethisch bedenkliche Seite. Denn weshalb sollte eine Million Euro für
ein Präparat für ein einziges Kind in Deutschland ausgegeben werden, wenn
mit der gleichen Summe Tausenden von afrikanischen Kindern geholfen werden
könnte.
© 2002 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de