Sucht im Alter |
31.03.2003 00:00 Uhr |
Fast 1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind von Benzodiazepinen abhängig, so das Ergebnis einer Untersuchung aus dem Jahr 2001 auf der Basis von Krankenkassendaten. Vor allem Frauen ab 60 Jahren sind gefährdet, eine Sucht zu entwickeln.
Während Wohlfahrtsverbände und Kostenträger von Suchtpräventionsprogramme jugendlichen Drogenabhängigen Hilfe bieten, werden Erwachsene beziehungsweise Senioren mit Suchtproblemen als Zielgruppe vernachlässigt. Das Problem der Sucht im Alter wird unterschätzt. Dabei wird sich die Problematik in Zukunft noch deutlich verschärfen.
Nicht nur die Zahl der Senioren steigt beständig – bis zum Jahre 2030 soll der Anteil der über 60-Jährigen in Deutschland etwa 40 Prozent betragen –, auch die zunehmende Vereinsamung verstärkt die Problematik. Bereits heute lebt jeder zweite Rentner als Single allein in seiner Wohnung. Diese Einsamkeit kann den Konsum von Medikamenten oder Alkohol erhöhen. Oft fördert auch ein Wechsel der Lebensumstände wie das Ende des Berufslebens oder der Auszug der Kinder aus der elterlichen Wohnung den vermehrten Griff zu Alkohol und Medikamenten.
Sucht ist aber nicht nur ein Thema für Alleinlebende, sondern auch in Seniorenheimen. Personalmangel kann dazu führen, den Bewohnern Beruhigungstabletten statt Zuwendung zu geben. Der Verbrauch von Psychopharmaka ist bei Bewohnern von Alten- und Altenpflegeheimen um ein Vielfaches höher als bei alten Menschen, die in Privathaushalten leben. Durchschnittlich 56 Prozent der Heimbewohner nehmen Psychopharmaka ein: 31 Prozent konsumieren Sedativa oder Hypnotika, 27 Prozent Antipsychotika und 16 Prozent Antidepressiva (Weyerer, 1996). Über 40 Prozent der Heimbewohner konsumieren täglich fünf und mehr Medikamente .
Viele ältere Suchtkranke leiden unter starken Schuldgefühlen wegen ihrer Sucht. Dies erschwert es ihnen, Hilfe zu suchen oder anzunehmen. Der wichtigste Motor der Veränderung ist der Wunsch, die eigene Würde wieder zu gewinnen. Für ältere Menschen ist besonders bedeutsam, sich selbst respektieren zu können.
Arzneimittelabhängigkeit ist ein Zustand (psychisch und oft auch physisch), der aus der Wechselwirkung eines Pharmakons mit dem lebenden Organismus entsteht und durch Verhaltens- und andere Reaktionen charakterisiert ist, zu denen immer der Drang gehört, das Pharmakon periodisch oder wiederholt einzunehmen, um dessen psychische Effekte zu erleben und in manchen Fällen auch, um die unangenehmen Effekte seines Fehlens zu vermeiden.
Definition der WHO
Sucht auf Rezept
Etwa 27 Prozent aller Frauen über 60 Jahren sind gefährdet, eine Abhängigkeit durch Benzodiazepine zu entwickeln. „Medikamentenabhängigkeit ist eine meist per Rezeptblock verordnete Sucht“, formulieren die „Grünen“ im Bayrischen Landtag in einem Positionspapier.
Etwa 8 bis 10 Prozent der häufig verordneten Arzneimittel besitzen ein Suchtpotenzial. Dabei sind vor allem Frauen gefährdet: Sie nehmen rund zwei Drittel aller verschriebenen Medikamente mit Suchtpotenzial ein. Bei jüngeren Frauen, die zu Tabletten greifen, steht vor allem das „Funktionieren-wollen“ im Vordergrund (siehe Kasten).
Risikofaktoren für die Entwicklung
Das dem Arzt entgegengebrachte Vertrauen kann einer Sucht Vorschub leisten: „Ein Arzneimittel, das der Arzt verordnet hat, kann ja nicht abhängig machen“, denken viele. Ein Problembewusstsein kommt daher gar nicht erst auf, wenn der Arzneimittelkonsum steigt. Wenn die Betroffenen versuchen, die Medikamente selbstständig und abrupt abzusetzen, verkennen sie die einsetzenden Entzugserscheinungen. Nervosität, Unruhe, Schlafstörungen und Schweißausbrüche werden als die ursprünglichen Symptome fehlinterpretiert. Sie gelangen zu dem Schluss, die Medikamente weiter zu konsumieren. Auch professionelle Hilfe wird nicht gesucht, um der iatrogenen Sucht zu entfliehen.
Benzodiazepine besonders kritisch
Die erste Meldung über den Missbrauch von Benzodiazepin-Derivaten wurde 1964, kurz nach deren Markteinführung, veröffentlicht. Die Verordnungshäufigkeit von Benzodiazepinen ist in den letzten Jahren stetig zurückgegangen. Zeitgleich stieg die Verschreibung von Neuroleptika und Antidepressiva an. Das substanzspezifische Abhängigkeitspotenzial einiger dieser Stoffe ist vermutlich geringer. Jedoch spielen andere Nebenwirkungen wie Dyskinesien, Herzrhythmusstörungen und Mundtrockenheit eine erhebliche Rolle.
Zudem ist die Dunkelziffer der Benzodiazepin-Verordnungen nicht kalkulierbar. Viele Ärzte zücken nicht das Kassen-, sondern das Privatrezept. Diese Medikamente gehen nicht in die Statistik der Kostenträger ein.
Trotz der bekannten Risiken wie Abhängigkeitsentwicklung und Hang-over-Effekt werden gerade Benzodiazepine mit langer Halbwertzeit als Hypnotika verordnet. Diazepam ist mit 72 Stunden einer der Spitzenreiter. Der Hang-over-Effekt wird vereinzelt gerade in Pflegeeinrichtungen geschätzt: Ein müder Patient macht weniger Arbeit als ein agiler. Problematisch ist hingegen die Muskel relaxierende Wirkung der Pharmaka. Damit verbunden ist eine um mehr als 65 Prozent erhöhte Sturzgefahr. Erschreckenderweise deckt sich das Nebenwirkungsspektrum mit dem Zustand älterer Patienten: Vergesslichkeit, Nachlassen des Muskeltonus und Blasenschwäche. Wenn schon Benzodiazepine verordnet werden sollen, dann werden Substanzen mit einer Verweildauer von drei bis sechs Stunden wie Triazolam günstiger beurteilt (Tabelle).
Halbwertszeiten von Benzodiazepinen
Halbwertszeit kurz < 12 h Temazepam
Triazolam
Oxazepam
Lormetazepam mittel 12 bis 24 h Lorazepam
Flunitrazepam lang > 24 h Diazepam
Nitrazepam
Flurazepam
Chlordiazepoxid
Die neuren Verbindungen wie Zolpidem oder Zopiclon scheinen möglicherweise ein günstigeres Risikoprofil aufzuweisen. Zopiclon hat eine Halbwertzeit von drei bis sechs und Zolpidem von nur zwei bis drei Stunden.
Aus der Gruppe der Neuroleptika weisen besonders solche ein stärkeres Suchtpotenzial auf, bei denen der dämpfende und nicht der antipsychotische Effekt im Vordergrund steht. Dies sind unter anderem Promethazin und Chlorprothixen. Auch bei den neueren Serotonin-Wiederaufnahmehemmern wurden vermehrt Abhängigkeiten und Absetzerscheinungen festgestellt. Bei Paroxetin und Sertralin treten diese Symptome besonders häufig, bei Fluvoxamin und Fluoxetin geringer auf. Bei einer Behandlungsdauer von sechs bis acht Monaten sollte etwa die gleiche Wochenanzahl zum Ausschleichen der Dosis benutzt werden.
Sinnvoll verordnen
Für eine Verordnung von Benzodiazepinen müssen verschiedene Kriterien erfüllt sein: Eine klare Indikation muss bestehen, außerdem sollte die Therapie mit einer niedrigen Dosierung für einen kurzen Zeitraum erfolgen und nicht abrupt abgesetzt werden.
Auch wenn der verschreibende Arzt für die Benzodiazepin-Problematik sensibilisiert ist, lässt sich ein Missbrauch nicht immer verhindern. Häufig „pilgern“ Patienten von einem Arzt zum anderen und entgehen somit der ärztlichen Kontrolle. Außerdem existieren „Benzodiazepin-Schwerpunktpraxen“, die derartige Medikamente eher unkritisch verordnen.
Die letzte Kontrollinstanz ist immer das Apothekenpersonal. Es sollte sich dieser Funktion bewusst sein und gegebenenfalls den Arzt auf das Konsumverhalten seines Patienten hinweisen. Um nicht als Denunziant dazustehen, sollte vorher ein klärendes Gespräch mit dem Patienten stattfinden. Oft wissen diese nur, dass ihnen das Mittel gut tut, aber nicht, dass es sie abhängig machen kann.
Literatur
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Matthias Bastigkeit
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