Pharmazie |
17.11.1997 00:00 Uhr |
Pharmazie
"Retroviren sind eigentlich ein Fehler der Evolution." Professor Dr. Theodor
Dingermann vom Institut für Pahrmazeutische Biologie der Frankfurter Johann
Wolfgang Goethe-Universität spielte damit in Gießen auf die Variabilität der
HI-Viren an. Bei jedem Vermehrungszyklus werde der Genomtyp zweimal
gewechselt, was auf die hohe Fehlerquote der an der Replikation beteiligten viralen
Enzyme zurückzuführen sei. Nicht nur dies, sondern auch die Tatsache, daß die
beiden bekannten HIV-Typen 1 und 2 nur etwa zu 50 Prozent in ihrer
Erbinformation übereinstimmen und daß darüber hinaus noch verschiedene Subtypen
exisitieren, mache die Heilung der HIV-Infektion bis heute unmöglich.
Dennoch gibt es Hoffnung, da die Therapie in den letzten Jahren erhebliche
Fortschritte gemacht hat. "Im Prinzip ist jeder Schritt im Vermehrungszyklus des
HI-Virus ein mögliches Therapietarget", erklärte Dingermann. Vorstellbar sei es
beispielsweise, durch Manipulation von Chemokinrezeptoren das Eindringen des
Virus in die Wirtszelle zu verhindern. Man habe nämlich beobachtet, daß Patienten
mit Defekten in diesen Rezeptoren nicht infiziert werden. Derzeit setzen
Wissenschaftler große Hoffnung in die Idee, das Andocken des Virus durch
künstliche Chemokinrezeptoren zu verhindern.
Von der klinischen Anwendung noch entfernt ist laut Dingermann die Inhibition der
RNase H, eines viralen Enzyms, das ebenso wie die Reverse Transkriptase an der
Umschreibung der viralen RNA in DNA beteiligt ist. Bei der Reversen Transkriptase
(RT) ist diese Hemmung bekanntlich bereits erfolgreich geglückt: Der Einsatz von
nukleosidischen RT-Inhibitoren wie beispielsweise Zidovudin sowie von
nicht-nukleosidischen Hemmstoffen der RT (zum Beispiel Nevirapin) ist heute fester
Bestandteil der Standard-HIV-Kombitherapie.
Zukunftsmusik ist dagegen die Integration des viralen Genoms in das Zellgenom zu
verhindern. Vorstellbar sei der Einsatz von Ribozymen oder Antisense Molekülen,
um die Codierung bestimmter zur Integration erforderlicher Proteine zu verhindern.
Ebenfalls noch weit von einer möglichen Einführung entfernt seien Ansätze, die die
Ausknospung neuer Viruspartikel aus den infizierten Zellen verhindern, so
Dingermann.
Als entscheidenden Durchbruch in der modernen HIV-Therapie wertete
Dingermann die Einführung der Protease-Inhibitoren (Indinavir et cetera), die durch
Hemmung der viralen Protease die Bildung neuer infektiöser Viruspartikel
verhindern. Therapie der Wahl ist heute bekanntlich die Dreierkombination aus zwei
nukleosidischen RT-Inhibitoren und einem Protease-Inhibitor oder einem
nicht-nukleosidischen RT-Inhibitor. Durch die Dreierkombination verringere sich die
Wahrscheinlichkeit von Resistenzentwicklungen auf 1x10-12, verdeutlichte
Dingermann (zum Vergleich: bei einer Monotherapie liegt das Resistenzrisiko bei
1x10-4, bei einer Zweierkombination bei 1x10-8).
"Arzneimittel haben in der Behandlung viraler Hepatitiden in der Vergangenheit
nur eine sehr geringe Rolle gespielt, dafür aber bei ihrer Verbreitung". Professor Dr.
Axel Holstege von der Medizinischen Klinik I des Klinikums Landshut referierte in
Gießen die Pathologie und Therapiemöglichkeiten viraler Lebererkrankungen. Er
konzentrierte sich auf die Hepatitis A, B und C. Sie unterscheiden sich vor allem in
ihren Übertragungswegen, ihrer Chronizität sowie im Vorhandensein von
Vorbeugungs- und Behandlungsansätzen.
Die wichtigsten Charakteristika in Stichworten: Hepatitis A ist ein RNA-Virus, die
Übertragung erfolgt fäkal-oral, es gibt ausschließlich akute Verläufe und keine
therapeutischen Möglichkeiten, dafür sind aber aktive und passive Vakzine
vorhanden. Hepatitis B ist ein DNA-Virus mit überwiegend parenteraler
Übertragung, der Verlauf ist zumeist akut und relativ selten (5 bis 10 Prozent)
chronisch, eine antivirale Therapie mit alpha-Interferonen sowie passive und aktive
Vakzine sind vorhanden. Die Hepatitis C ist ein RNA-Virus. Die Übertragung
erfolgt über Blut und Blutprodukte, der Verlauf ist in 50 bis 80 Prozent chronisch,
eine Therapie mit Interferonen steht zur Verfügung, Vakzinen dagegen nicht.
"Therapeutische Möglichkeiten zur Behandlung von Herpesinfektionen sind
durchaus vorhanden. Die Frage ist nur, ob lokal anwendbare Virustatika daran einen
Anteil haben." Nach Einschätzung von Professor Dr. Sawko Wassilew von der
Städtischen Krankenanstalt Lutherpfalz in Krefeld ist dies eher nicht der Fall. Er
berichtete über Krankheitsverlauf und Therapieansätze bei Herpes-simplex- (H.
labialis, H. genitalis) und Herpes-zoster-Erkrankungen (Windpocken, Gürtelrose et
cetera). Nach seiner Überzeugung spielen Virustatika dabei jeweils nur systemisch
angewandt eine Rolle.
Zur lokalen Behandlung etwa bei H. labialis propagiert Wassilew im nässenden
Stadium feuchte antiseptische Umschläge/Lösungen, anschließend
Antiseptika-haltige Cremes (beispielsweise mit Chlorhexidindigluconat) und im
nachfolgenden Krustenstadium entsprechende Salben. "Es gibt keinen Beweis, daß
lokal angewandte Virustatika wie Tromantadin, Aciclovir, Foscarnet oder Idoxuridin
wirksamer wären als irgendeine andere Substanz", monierte er. Eine Ausnahme
bildet nach seinen Worten offenbar Penciclovir, mit dem in einer neueren Studie
H.-labialis-Symptome wie Schmerzen und Juckreiz statistisch signifikant von 4,4 auf
3,8 Tage verkürzt werden konnten.
Eine optimistische Prognose gab Wassilew im Hinblick auf den bei manchen
Patienten obligatorischen "Urlaubsherpes". Man könne diesen mit nahezu
100prozentiger Sicherheit verhindern, wenn bereits drei Tage vor Urlaubsantritt bis
zum Urlaubsende durchgehend eine perorale Aciclovirprophylaxe (zweimal
400mg/d) durchgeführt werde.
Auch beim H. genitalis schätzt Wassilew die virustatische Lokaltherapie "als völlig
unwirksam" ein und propagiert stattdessen die perorale Therapie beispielsweise mit
Aciclovir, Valaciclovir oder Famciclovir. Im Hinblick auf Dosierschema und -höhe
müsse man sehr genau unterscheiden, ob es sich um eine Primärinfektion handele,
um eine Rezidivbehandlung oder um eine virustatische Erregersuppression
(Langzeitbehandlung).
Vor allem beim H. genitalis sei eine umfassende Aufklärung der Patienten notwendig,
betone Wassilew. Umfragen zufolge wüßten rund 70 Prozent der Betroffenen nichts
von ihrer Infektion. Dies sei umso gefährlicher, weil knapp drei Viertel der Infizierten
asymptomatisch Viren ausscheiden und so für rund 95 Prozent der Neuinfektionen
verantwortlich sind. Bei schwangeren H.-genitalis-Patientinnen wird laut Wassilew,
um eine Ansteckung des Kindes zu verhindern, ab drei Tagen vor der Geburt eine
systemische Aciclovirprophylaxe durchgeführt. Eine vorbeugende oder eine
therapeutische Vakzine gegen H.genitalis ist nach seinen Worten derzeit nicht in
Sicht.
Im Hinblick auf Herpes zoster räumte Wassilew mit Vorurteilen auf:
"Zoster-Primärinfektionen gibt es in jedem Alter, und betroffen sind nicht immer nur
Immunsupprimierte". Bezüglich der Therapie zog Wassilew eine klare Altersgrenze:
Immunkompetente Patienten unter 50 Jahren benötigen wegen Selbstheilung der
Erkrankung in der Regel keine systemische Behandlung (lokal bei Bedarf wie bei H.
labialis). Bei Patienten über 50 plädiert Wassilew dagegen für eine frühzeitige
systemische Virustatikatherapie ("im Zweifel auch schon bei Verdacht"), da das
Auftreten und Ausmaß chronischer Schmerzen abhängig vom Alter und von der
Schwere des Initialschmerzes seien. Bei der Gefahr ophthalmischer Komplikationen
müsse in jedem Lebensalter behandelt werden, betonte er und forderte für möglichst
frühzeitige Therapieentscheidungen bessere Diagnosemöglichkeiten bereits im
Prodromalstadium des herpes zoster.
PZ-Artikel von Bettina Neuse-Schwarz und Elke Wolf, Gießen
© 1997 GOVI-Verlag
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